Der Stellenwert transkultureller Aspekte in
der sozialgerichtlichen Begutachtung von Migranten nimmt für
die gerichtliche Rechtssprechung stetig zu. Vermehrt ist zu
Beobachten, daß Rentenbegehren von Migranten wegen Berufs-
oder Erwerbsunfähigkeit langjährige Gerichtverfahren
beanspruchen. Fünf- bis acht Begutachtungen eines Migranten
sind keine Seltenheit. Von den Rechtsvertretern wird immer
häufiger ein Fachmann mit transkulturellen Kenntnissen
gefordert (ethno-kulturelle psychiatrisch/psychologische Begutachtung).
Die spärliche Literatur zur transkulturellen Begutachtung
(Collatz u.a. 1997) weist auf die Schwierigkeiten sozialgerichtlicher
und sozialmedizinischer Begutachtung von Migranten sehr deutlich
hin.
Die Literatur belegt sehr frappant die sozialen, psychischen
und arbeitsweltlichen Belastungs- und Überforderungssituationen
von Migranten (Collatz 1985, 1987, 1995, 1997).
Die Bewältigung dieser belastenden Lebenssituationen
(life-events) werden nach neueren Forschungsergebnissen der
Migrationsforschung durch coping-strategien erklärt.
Nach den Ergebnissen der Streßforschung (v.a. Lazarus
und Mitarbeiter) wirken sich life-events (kritische Lebensereignisse),
das sind plötzlich überraschende, einschneidende
Lebensereignisse und Verluste und chronische Stressoren auf
die Gesundheit des Menschen aus. Soziale und psychische Ereignisse,
die den normalen Lebenslauf unterbrechen erfordern hohe Anpassungsleistungen.
Insbesondere gilt dies für Ereignisse, die unerwünscht,
unüberschaubar und als unbeeinflußbar wahrgenommen
werden und negative Folgen und Verluste befürchten lassen.
Je mehr und je länger diese Ereignisse auf die Betroffenen
einwirken, so daß die normalen Bewältigungsstrategien
nicht mehr ausreichen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit,
daß als Folge innerer Spannungszustände auftreten.
Sie führen bei entsprechender körperlicher und psychischer
Disposition zu krankmachenden Prozessen.
Bei den Bewältigungsstrategien wirken subjektive kognitive
Momente.
Hier ist allgemein von einer "Größe",
die als "erworbene Kompetenz aufgrund der Lebenserfahrungen"
bezeichnet werden kann, zentral. Darunter sind Bewältigungsstrategien
für die Verarbeitung von Stressoren gemeint, sog. coping-strategien:
Also Fähigkeiten eines Menschen Probleme und deren emotionale
Folgen zu verarbeiten. Diese sind besondere Verhaltensweisen,
die ein Mensch zur Überwindung von psychischen Veränderungen
entwickelt. Manche betroffe Verarbeiten das Ereignis adäquat.
Bei anderen stellen sich psychische, soziale oder psychsomatische
Störungen und Beschwerden ein.
Im folgenden werden zwei sozialgerichtliche Gutachenbeispiele
dargestellt, die die Frage nach den Bewältigungsstrategien
vor und in der Migration beleuchten. Hierbei werden zwei zentrale
Aspekte der transkulturellen Begutachtung kasuistisch dargestellt:
Die erste Kasuistik verdeutlicht ethno-kulturelle Hintergründe
der Religiösität als Bewältigungsmechanismus
einer 53 jährigen Frau aus der Türkei. Die zweite
beschäftigt sich mit dem Entwurzelungssyndrom und den
Bewältigungsstrategien eines 64 jährigen deutschstämmigen
Aussiedlers aus der ehemaligen UdSSR eines.
Kasuistik 1: Frau S.B.:
Fragestellung: Entwuzelungssymptomatik und Anzeichen
einer Angstneurose oder einer reaktiven Depression wegen der
Angst des Auftretens von Metastasen
Eigenanamnese:
Seit langen Jahren habe sie ein Rheumaleiden. Vor allem das
rechte Bein sei betroffen . Schmerzen würden weiterhin
vom Rücken hin zu den Kniescheiben ausstrahlen. Sie würde
deshalb jährlich versuchen eine Reise in die Türkei
zu machen, um sich kurativen Behandlungen zu unterziehen.
Es seien Kurorte in der Türkei, an denen sie sich selbst
behandeln würde. Vor allem würde sie sich mit heißem
Sand bedecken, zu warmen Quellen fahren, im warmen Wasser
sitzen und Dampfbäder nehmen. Wenn sie sich dieser Kur
nicht unterziehen könne, dann würde sie das ganze
Jahr Schmerzen haben und könne auch nicht liegen. 1978/79
habe sie in einer Wäschefabrik gearbeitet und sei mit
dem Fahrrad nach Hause gefahren. Sie vermutet, daß ihre
Leiden von dieser Zeit herrühren, da sie sich immer in
feuchter, nasser Umgebung aufgehalten habe und dann mit dem
Fahrrad gefahren sei. Sie habe das deutschen Ärzten gegenüber
nicht geäußert, da sie gedacht habe, daß
wenn sie in der Bundesrepublik eine Kurmaßnahme in Anspruch
nehme, ihr späterer Anspruch auf Rente dadurch verwirkt
sei.
Im Mai 1993 sei eine Brustoperation, links, durchgeführt
wurden. 1994 sei eine weitere Operation der Narbe erfolgt.
Sie habe Schwierigkeiten den rechten Arm zu heben, die Beweglichkeit
sei stark eingeschränkt. Sie könne keine Fenster
und Türen mehr putzen. Auch habe sie Schwierigkeiten
lange zu stehen und Geschirr abzuwaschen.
Sie habe auch Schmerzen im Rückenbereich. Die Schmerzen
würden in das rechte Bein ausstrahlen.
Biographische und sozial-anamnestische Angaben:
Frau B. sei in einem Dorf, in der Nähe von Nigde geboren
. Sie sei in sehr ärmlichen und bäuerlichen Verhältnissen
aufgewachsen. Ihre Kindheit sei unter den gegebenen Umständen
entsprechend verlaufen. Sie habe seit frühester Kindheit
arbeiten müssen. Vor allem habe sie in der bäuerlichen
Landwirtschaft geholfen und im Winter habe sie Teppiche geknüpft.
Sie sei viel mit dem Vater auf den Feldern unterwegs gewesen.
Ihr Auskommen hätten sie aber sichern können.
In die Schule sei sie nicht geschickt wurden, da damals die
Vorstellung geherrscht habe, daß Mädchen auf der
Schule nichts zu suchen hätten. So könne sie jetzt
auch nicht lesen und auch nicht schreiben.
Mit 15 oder 16 Jahren habe sie geheiratet. Ihr Ehemann sei
zwei Jahre älter gewesen. Es sei keine Liebesheirat gewesen,
viel mehr habe der Vater den Ehemann ausgesucht. "Was
wußten wir damals von der Liebe". "Da wo meine
Mutter und mein Vater mir den Platz wiesen, da gehöre
ich hin." Sie sei aber zufrieden mit ihrem Ehemann gewesen.
Nach der Heirat habe sie bei der Schwiegermutter mit ihrem
Ehemann zusammen gewohnt. Ihre wirtschaftlichen Verhältnisse
seien gut gewesen, jedoch habe es die "typischen"
Schwierigkeiten mit der Schwiegermutter gegeben.
1963 sei der Ehemann nach Ankara gegangen,. Dort hab er sich
eine neue Existenz aufbauen wollen. In Ankara habe der Ehemann
als Hilfsarbeiter etwa zwei bis drei Jahre gearbeitet. Es
sei schwer gewesen, daß Auskommen in der Stadt zu sichern,
doch seien sie glücklich gewesen. Sie würden es
bis heute nicht bereuen , daß sie sich vom Dorf getrennt
hätten. Vor dem Umzug nach Ankara sei der erste Sohn
noch im Dorf geboren worden.
Drei Kinder seien in Ankara geboren, das Fünfte in Deutschland.
1969 sei der Ehemann nach Frankreich migriert. Ein Jahr später
habe er sie nachgeholt. Sie habe dann sieben Monate in Frankreich
gearbeitet. Die Kinder seien zu der Zeit in der Türkei
gewesen.
Sie hätten sich dann entschieden die Kinder nachzuholen,
jedoch hätten sie in Frankreich keine entsprechende Wohnung
gefunden. Sie seien einmal nach K. gefahren und hätten
bei einer Fahrradfirma ein Arbeitsangebot erhalten, welches
sie sofort angenommen hätten. Dies sei im Mai 1970 gewesen.
1971 hätten sie die Kinder nachgeholt. Später seien
sie dann nach D. und später nach L. umgezogen.
In L. habe sie neun Jahre lang in einer Kunststoffabrik gearbeitet,
ihr Mann in der selben Zeit in einer Gießerei. Die neun
Jahre habe sie schwer gearbeitet, sei öfter krank gewesen.
Ihr Rheumaleiden habe ihr sehr zu schaffen gemacht. Im Mai
1987 sei sie entlassen wurden. Seit her habe sie nicht mehr
gearbeitet. Zur zeit bezöge sie Arbeitslosenhilfe. Ihre
Kinder, seien hier in die Schule gegangen. Der älteste
Sohn (36 Jahre) sei vor drei Jahren in die Türkei zurückgekehrt
und würde dort ein Geschäft unterhalten. Ihre Tochter,
D., habe die Universität absolviert und sei Betriebswirtin
und mit einem deutschen Mann verheiratet. F. (33 Jahre) würde
"Städteplanung" studieren, M., der viert älteste
(28 Jahre) würde in K. an der Universität sein letztes
Semester absolvieren. Die jüngste Tochter (23 Jahre)
würde zu Hause wohnen.
1993/94 seien sie wegen den Kindern nach H. gezogen, da diese
mittlerweile ihr Studium und ihre Arbeit in H. hätten.
Sie habe in der Nähe der Kinder seien wollen
Im Mai. 1993 habe sie eine Brustoperation gehabt. Eine Brust
sei ihr entfernt wurden. Sie habe damals große Ängste
ausgestanden, jedoch sei die Operation gut verlaufen. Sie
sei auch von ihrer Familie gut unterstützt worden.
Es sei offensichtlich so, daß Allah, ihr Leben habe
noch nicht nehmen wollen. "Mut" habe sie viel aufgebracht
und habe auch gemerkt, daß nach der Krise der Operation
das Leben weitergeht und ein Mensch nach solch einer Operation
"doch nicht daran stirbt". Und sie sei sehr religiös
und würde auf die Güte Allahs vertrauen.
Drei ihrer Kinder seien nun verheiratet. Doch die Heirat
des ersten Sohnes sei nicht nach ihren Vorstellungen verlaufen.
Während ihres Aufenthaltes hier in Deutschland, hätten
sie als Familie einige Besitztümer erworben. Die Schwiegertochter,
so vermute sie, habe es auf das gemeinsam Erwirtschaftete
abgesehen. Sie habe ihrem Sohn immer wieder gesagt, daß
er seine Anteile sichern müsse. Dies sei soweit gegangen,
daß der Sohn alles habe liegen und stehen lassen und
sei in die Türkei remigriert. Dies sei eine schwierige
Zeit für sie gewesen. Da sie immer daran denke, daß
sie sich mit ihrem Sohn immer gut verstanden habe und seit
dem die Schwiegertochter da sei, alles sich verändert
habe. Aber sie könne nichts machen. In der Familie des
Sohnes, (E.) habe es große Veränderungen und Streitigkeiten
gegeben. Da das die Zeit ihrer Operation gewesen sei, habe
sie davon nicht sehr viel mitbekommen. Es sei auf jeden Fall
so, das der Sohn, in der Türkei, die Ehefrau und die
beiden Kinder hier in Deutschland leben würden.
Sie könne das alles nicht verstehen, da sie sich innerhalb
der Familie eigentlich immer gut verstanden hätten. Der
Vater sei für die Kinder wie ein Freund gewesen. Alle
würden sich gerne haben. Ihr täte es leid, daß
es innerhalb der Familie Streitigkeiten wegen Besitz und Geld
geben würde.
Sie könne nicht viel tun, außer geduldig sein
und die Dinge in Allahs Hände legen.
Weitere größere Krisen, habe es in ihrem Leben
nicht gegeben, wofür sie Allah danke. Sie verstünde
sich mit ihrem Ehemann gut. Aus den Kindern sei etwas geworden.
Sie leide nur an der Arbeitslosigkeit. Sie habe hier in H.,
außer den Kindern keine großen Kontaktmögkichkeiten
und auch kein entsprechendes Umfeld. Ihre ganzen anderen emotionalen
Bindungen wären in der Türkei. Und doch es mache
sie froh zu sehen, daß aus ihren Kindern "etwas
geworden ist". Sie seien verantwortungsvoll und sie könne
ihnen allen trauen. Sie plane mit ihrem Ehemann bald die Pilgerfahrt
nach Mekka zu machen, um ihren religiösen Pflichten nach
zu kommen. Sie danke Allah, trotz ihren gesundheitlichen Einschränkungen,
daß sie im Vergleich zu vielen anderen Menschen ein
gutes Leben habe.
Das Leben in Deutschland sei nicht einfach. Doch habe sie
mit ihrem Ehemann und ihrer Familie ihres Erachtens das beste
daraus gemacht. Sie hätten es nie bereut, daß sie
nach Deutschland migriert wären. Die Kinder seien jetzt
groß und würden sie nicht mehr so brauchen, wie
früher. Schwierig sei es, daß sie in H. kein entsprechendes
Umfeld habe und die Aufenthalte in der Türkei ihr helfen
würden die Zeit zu vertreiben.
In der Türkei ginge ihr es gesundheitlich noch besser.
Sie würde ihre Anwendungen bezüglich ihres Rheumas
durchführen. Auch sei die Luft und das Essen in der Türkei
besser. Viele verwandtschaftliche Beziehungen seien dort.
Sie fühle sich dort aufgehoben und integriert. In Deutschland
habe sie das nicht erleben können. Hier habe sie sich
mit aller Kraft auf ihre eigene Familie konzentriert. Die
Kinder seien jetzt groß und selbständig. Und so
könne sie sich jetzt auch mehr um ihre religiösität
kümmern. Ihre Religion auszuleben sei in der Türkei
auch einfacher als hier. Oft habe sie Sehnsucht wieder in
ihre Heimat zurückzukehren. Doch würde ihre Krankheit
und auch ihr Rentenbegehren sie daran hindern.
Ethnopsychologischer Befund:
Bei Frau B. handelt es sich um eine Frau, die in einfachen,
ärmlichen und bäuerlichen Zusammenhängen aufgewachsen
ist. Sie weist eine sehr traditionell- religiöse Orientierung
auf und ist mit ihrer Herkunftsfamilie, sowie ihrer jetzigen
Familie eng verwoben und verbunden. Im Sinne einer traditionell
orientierten Frau hat sie die Norm und Wertvorstellungen,
sowie die Zuweisung der Frauenrolle internalisiert. Sie beteuert
zwar, daß sie nicht lesen und schreiben kann, doch kann
sie ein gewisses Verständnis dafür aufbringen, daß
zur damaligen Zeit die Bildung von Mädchen nicht gern
gesehen wurde. Dies rührt aus der Akzeptanz ihrer Rollenzuweisung
her. Die traditionelle türkische Familie ist eine hierarchisch
und patriarchalisch gegliederte soziale Gruppe. Das heißt,
alle Familienbeziehungen und Verhaltensweisen der einzelnen
Familienmitglieder orientieren sich am Vorrang und der Autorität
des Vaters und an einer von allen anerkannten familiären
Rangordnung und Rollenzuweisung. Die Beziehungen zwischen
den Familienmitgliedern werden nach der familiären Hierarchie
durch Respekt, Achtung und Gehorsam gegenüber anderen
Familienmitgliedern bezeugt. In der türkisch- islamischen
Familienstruktur ist die Rollenverteilung zwischen Mann und
Frau in der Familienstruktur angelegt und wird auch im öffentlichen
Leben fortgesetzt. Aus den Norm und Wertvorstellungen resultieren
die Rollenzuweisungen und Verhaltensvorschriften für
Frauen. Werte und Normen in dörflichen Gemeinschaften
sind beispielsweise, ein einwandfreies moralisches Verhalten,
Geduld und Respekt anderen, vor allem älteren Menschen
gegenüber, Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Gastfreundschaft,
gute Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen, Mitleid
und Hilfeleistung Armen und Kranken gegenüber, Mütterlichkeit,
Autorität des Vaters, und als zentraler Wert, die Ehre
eines Mannes und einer Frau. Mädchen lernen seit frühester
Kindheit, daß sie das untergeordnete und schwächere
Geschlecht sind. Deshalb müssen sie beschützt werden
und können nur durch einen Mann existieren. Die Vorstellung
von der "minderwertigen" Frau betrifft alle Lebensbereiche
und wird den Frauen tagtäglich bestätigt und so
auch von diesen als " Gott - gewollt" und unabänderlich
akzeptiert.
Aus diesem häuslichen und auch dörflichem Milieu
heraus ist auch zu verstehen, daß Frau B. als junges
Mädchen mit sechzehn Jahren verheiratet wurde. Für
sie stand es auch im Einklang mit ihrer Weltsicht, daß
ihr Ehemann ausgesucht wird und ihre Pflicht darin besteht
sich mit ihm gut zu verstehen. Ihre 'Ergebenheit' an die Normen
und Werte kann auch aus dem Satz. "Wo meine Eltern an
mir den Schnitt anbringen, dorthin fließt mein Blut".
So fügt sie sich ihrem 'Schicksal' und ihre Ehe ist auch
jetzt im Rückblick eine gute und gelungene Lebensgemeinschaft.
Bedingt durch die schwierigen Lebensumstände in Ankara
erfolgt 1969 für ihren Mann und 1970 für sie die
Migration nach Frankreich. Ihr junges Alter unterstützte
ihren Arbeitswillen und ihre Arbeitskraft. "Wir waren
jung und konnten viel und schwer arbeiten. Die Deutschen haben
das bemerkt und uns oft dafür gelobt". Nach Sicherung
der Arbeitsplätze für ihren Mann und für sich
werden Kinder nach Deutschland nachgeholt.
Der Aufenthalt im Ausland ist eine bewußte Entscheidung
und die damit einhergehenden Entbehrungen und Verluste an
emotionalen Bindungen wurden von Frau B. durch einen starken
Familiensinn kompensiert. Die Familienregel könnte folgendermaßen
formuliert werden: Wir sind in der Fremde und aufeinander
angewiesen. Wir müssen zusammen halten, um unsere Ziele
zu verwirklichen. Dieser Regel folgend, unterstützt sich
die Familie gegenseitig und gewährleistet dadurch, daß
die Kinder eine erfolgreiche schulische und berufliche Integration
und Erfolg umsetzten können. Erklärtes Ziel von
Frau B. ist auch das die Kinder es besser haben sollen und
ihre ganzen Bemühungen und Entbehrungen durch den Erfolg
der Kinder belohnt werden.
Die im Mai 1987 eingetretene Arbeitslosigkeit geht mit dem
Gefühl des "Verbraucht seins" einher. Sie widmet
sich vorwiegend der Familie und versucht diese nach besten
Kräften zu unterstützen. Leitende Gedanken für
den weiteren Aufenthalt in Deutschland sind ihre Gesundheit
und der Zusammenhalt der Familie. Wegen den Kindern, sei sie
1993 nach H. gezogen. Dies ging einher mit der Veränderung
der gewachsenen Beziehungen in L.. Das eingeschränkte
soziale Umfeld und die dadurch resultierende Kontaktarmut
zu Landsleuten konnte Frau B. durch den schulischen Erfolg
ihrer Kinder gut kompensieren. Im Rückblick sind ihre
Kinder erfolgreich und deshalb ist es aus ihrer Sicht auch
legitim "Opfer" für die Kinder zu erbringen.
Die Heirat des ältesten Sohnes beschwört auch die
erste familiäre Krise herauf. Die Schwiegertochter gefährdet
den familiären Zusammenhalt, da durch die Neugründung
einer Familie das Zusammengehörigkeitsgefühl angetastet
wird. Die "eingeheiratete Schwiegertochter" (gelin)
ist anspruchsvoll und entspricht nicht den Anforderungen die
eine "gelin" haben müßte. Eine "gelin",
muß sich in der neuen Familie bewähren. Sie muß
die unangenehmsten Arbeiten verrichten. Sie nimmt in der familiären
Hierarchie die niedrigste Rangstufe ein. Ihrer Schwiegermutter
muß sie beweisen, daß sie hart arbeiten kann,
sich auf die häuslichen Arbeiten versteht und nicht nur
ihren Ehemann im Kopf hat. Sie darf nicht widersprechen und
muß den Anordnungen der Schwiegermutter, des Ehemannes
und dessen Brüder gehorchen. Hat sie durch Ehrerbietung
und Fleiß die Zuneigung der Schwiegermutter gewonnen,
wird sie dann wie eine Tochter behandelt. Die Beziehung zur
Schwiegermutter ist in der Anfangszeit einer familiären
Neugründung die wichtigste Beziehung, oft wichtiger als
zum Mann. In dieser ersten Zeit muß sie sich bewähren,
und es erweist sich, ob die Wahl richtig getroffen wurde.
Für das Ansehen und die Ehre der Familie ist es entscheidend,
daß die Schwiegertochter ehrenhaft und fleißig
ist. Es wird traditionell davon ausgegangen, daß die
Schwíegertochter eine Fremde ist, deren Solidarität
an sich nicht sicher sein kann. So enthält das Verhältnis
zwischen der Braut und der Familie am Anfang der Ehe viel
Spannung.( vgl. Peters). Die angeheiratete entspricht nicht
den Erwartungen, da sie nicht die traditionelle Frauenrolle
übernimmt, sondern Ansprüche und Forderungen stellt,
die auch den Familienbesitz tangieren. Weiterhin wird durch
ihr starkes Auftreten auch der Zusammenhalt gefährdet
und der Sohn der Familie entfremdet. Frau B. sieht auch den
Grund dafür, daß ihr Sohn seit etwa drei Jahren
in die Türkei zurückgekehrt ist in dem Konflikt
mit der Schwiegertochter. Sie lebt heute noch mit dem Gefühl,
daß diese die Familie zerstört hat und auseinander
gebracht hat.
In dieser Zeit der Krise, habe sie auch ihre Brustoperation
gehabt. Anfangs habe sie sehr viel Angst gehabt, und habe
gedacht, sie müsse sterben. Nachdem die Operation aber
erfolgreich verlaufen wäre, habe sie neue Kräfte
geschöpft. Sie habe gemerkt, daß Allah ihr Ihr
Leben habe noch nicht nehmen wollen. In der Hoffnung der Besserung
und im Glauben, daß alle Geschicke "Allah lenkt"
sei sie geduldig und hoffe auf die Güte Allahs. Diese
Überzeugung, die aus dem Glauben resultierend, daß
Leiden und Krankheit von Gott bestimmt sind, hilft ihr auch
die gesundheitliche Krise sowie die familiäre Krise gut
zu bearbeiten.
Für den gläubigen Moslimen hat das Leiden einen
doppelten Sinn:
Es ist eine verdiente Strafe für Frevelhaftigkeit der
Menschen und es ist eine Prüfung von seiten Allahs. Allah
unterzieht den Menschen gewissen Prüfungen, um seinen
Glauben, seine Frömmigkeit und seine Treue auf die Probe
zu stellen. Verschiedene Situationen, des Lebens, vor allem
diejenigen Anlässe, die Schwierigkeiten und Leiden mit
sich bringen, sind für die Menschen immer wieder eine
Gelegenheit, die Bewährungsprobe neu zu bestehen. Wo
das Leiden als eine Bewährungsprobe angesehen wird, hilft
dem Muslim die Geduld, die zentrale Tugend im Islam, die im
Koran in unzähligen Versen empfohlen wird. Dies bedingt
bei dem religiösen Muslim eine religiöse Haltung,
die es ihm erleichtert, in der Not, im Leiden und in den verschiedenen
schwierigen Situationen des Lebens, in dene er an die Grenzen
seiner menschlichen Möglichkeiten stößt, sich
in den unbegreiflichen Willen Allahs zu ergeben und auf seine
Weisheit und Güte zu vertrauen.
Auch für Frau B. stellt der islamische Glaube eine ungeheure
Kraftquelle und ein überragender Ausdruck von Geduld,
die psychologischer Termini als eine gut funktionierende Bewältigungsstrategie
in Krisensituationen angesehen werden kann.
In diesem Kontext der Dankbarkeit für die "relative
Gesundheit" spricht auch die religiöse Pflichterfüllung
einmal im Leben als Muslim zur heiligen Städte Mekka
zu pilgern. Dies hat auch Frau B. mit ihrem Ehemann in naher
Zukunft vor.
So ist Frau Basata für ihr bisher gelebtes Leben, resultierend
aus ihrem Glauben dankbar. Sie hat aus ihrer Sicht ihre Ziele
erreicht und kann so langsam im Alter an ihre Rückkehr
denken. Auch für Frau Basata bzw. für ihren Ehemann
trifft es zu, daß das eigentliche Ziel der Migration
die Rückkehr zur Herkunftsland war. Durch den Zuzug nach
H. und den ausbleibenden sozialen Kontakten definiert sie
auch ihre Beziehung über die Heimat. Es besteht der Wunsch
an die Orte des früheren Lebens zurückzukehren.
Und der Wunsch nach Rückkehr in das ursprüngliche
Herkunftsland und ein Leben nach eigenen ethnischen Normen.
Deshalb nimmt auch die Ethnizität im Alter (mehr Rückbesinnung
auf eigene Normen und Werte, ursprüngliche Lebensvorstellungen,
kulturelle Gegebenheiten, Herkunftsregion) an Bedeutung zu.
Angesichts der sich immer weiter einschränkenden Zukunft
in Deutschland, einhergehend mit gesundheitlichen und anderen
(sozialen) Belastungen verbundenen Gegenwart stellt auch für
Frau B. die Hinwendung zur eigenen Vergangenheit eine Kompensation
dar, die mit Idialisierungen verbunden ist. Auch diese Hinwendung
und heimatkulturelle Orientierung dient für Frau B. als
ein Bewältigungsmechanismus und hat somit für sie
Erklärungswert. Diese ist positiv besetzt, da die Bilanzierung
des Lebens in der Fremde, d.h. das angestrebte und das Erreichte
für sie im Rückblick positiv erscheinen. So stellt
die Rückkehrorientierung auch eine emotionale Ressource
für Frau B. dar. Dies ist verbunden mit den Gefühlen
"eines zufriedenen Alters" das nach Rückkehr
auch Prestigegehalt hat. Dieser rührt aus der traditionellen
Orientierung heraus, das sie im Alter an Status und Ansehen
gewinnt. Dieser Prestige und Status Gewinn ist verbunden mit
kulturspezifischen Maßstäben und Zielen für
das Leben im Alter.
Zusammenfassende Beurteilung:
Die Leiden von Frau B. weisen keine gravierenden psychischen
Korrelate auf. Frau B. ist in ihrer Bewegungsfreiheit besonders
der rechten oberen Extremität sichtlich eingeschränkt.
Hinsichtlich dieser Einschränkung muß auf das orthopädische
Gutachten von Dr. G. verwiesen werden.
Anzeichen einer Angstneurose oder einer reaktiven Depression
wegen der Angst des Auftretens von Metastasen in anderen Körperregionen,
wie im Schreiben des Reichsbund vermutet wird, waren nicht
zu erruieren. Bezüglich ihrer gesundheitlichen Situation
verfügt Frau B. über gute Bewältiungsmechanismen,
die größtenteils aus ihrer Religiösität
herrühren und ihren Ursprung im Vertrauen zu Allah haben.
Bezüglich der Migrationsbiographie weist sie migrationsspezifische
Belastungen wie Verlust und Trennungserfahrungen, Verständigungsprobleme
sprachlicher und kultureller Art, schwere Arbeitsbedingungen,
Generationskonflikte, innerfamiliäre Zerreisproben und
Nicht- Zugehörigkeitsgefühle auf. Diese sogenannten
Stressoren, können zu krankmachenden Prozessen führen.
Sie sind bei Frau B. sicherlich als psychische Belastung anzusehen.
Jedoch ist von einem Entwurzelungssyndrom mit Krakheitswert
nicht auszugehen, da sie über die enge Familienbindung,
die bewußte Entscheidung zur Migration, sowie ihrer
religiös begründeten positiven Bewältigungsstrategien
verfügt. Unterstütz wird dies weiterhin durch ihre
Aussage, daß sie die Migration nicht bereue und sie
mit ihrem Mann zusammen das beste aus der Situation gemacht
hätten.
Kasuistik 2: Herr H.G
Fragestellung: Entwurzelungsdepression
Wie aus den Akten und aus den Erzählungen von Herrn
G. zu entnehmen war, ist er in der Ukraine in der ehemaligen
UdSSR in einem deutschen Dorf Eichwald geboren worden. Er
ist der viertälteste Sohn von fünf Kindern. Die
Kindheit ist mit sehr vielen frühen belastenden Ereignissen
vergangen. So hat er in der frühen Kindheit den Vater
verloren. Die ersten Jahre des Lebens waren gekennzeichnet
von Krieg, Verschleppung, Armut und dem Kampf ums Überleben.
Früh hat er seine Ethnizität, als Deutscher geboren
zu sein, mit negativen Erfahrungen durchlebt.
Er ist mit der Mutter und den Großeltern aufgewachsen.
Und ist in den ärmlichsten Verhältnissen, in dem
der Überlebenskampf im Vordergund stand, groß geworden.
Die Schule konnte er erst mit 13 Jahren, 1947 richtig beginnen
und besuchte dann im Ural die Grundschule. Vorher war der
Besuch durch die Kriegsverschleppungen nicht kontinuierlich
möglich. Er begann dann 1950 als Hilfsarbeiter in einer
Kolchose, die er 4 Jahre lang verrichtete. Der Wunsch, sich
weiter fortzubilden, ermöglichte ihm dann durch Beschaffung
von gefälschten Papieren das Verlassen der Kolchosen
und eine Ausbildung als Traktorist. Diese Entscheidung ging
auch einher damit, sich unter Russen als Deutscher empor zu
arbeiten. Es war ihm dann möglich, die 8. Klasse zu besuchen
und dann auf eine Technikerschule zu wechseln. Nach der Ausbildung
bekam er auch verantwortungsvolle Posten. 1971 wurde ihm die
Leitung einer Kolchose unterstellt. Mittlerweile hatte er
die Ausbildung zum Diplomagronom abgeschlossen. Von 1973 bis
1992 war er als Leiter einer Solchose eingestellt. Er sei
nie in der kommunistischen Partei in der UdSSR Mitglied gewesen.
Er habe sich sein Ansehen durch ehrliche Arbeit geschaffen.
Durch die ihm übertragene Leitung der Solchose habe er
mittlerweile auch als einziger Deutscher mit Familie in einem
rein russischen Dorf gelebt. Für dieses Dorf habe er
sich eingesetzt, indem er das Wassersystem, einen Kindergarten
und ein medizinisches Haus durchgesetzt habe. Dies alles habe
er gegen die Russen durchgesetzt. Das Gefühl des Andersseins
(als Deutscher in Rußland) habe ihn ständig begleitet.
Das Zusammenleben sei immer von Angst geprägt gewesen.
Der Satz "schau dich an, wer du bist" habe ihn sein
Leben lang begleitet.
Seit früher habe er immer den Wunsch gehabt, nach Deutschland
zurückzukehren. Das Deutschsein sei in der Familie aufrechterhalten
und gepflegt worden. 1990 sei es möglich gewesen, daß
er für eine kurze Zeit mit seiner Frau nach Deutschland
reisen konnte. Er habe dann hier die gepflegte kulturelle
Eigenständigkeit das erstemal ausleben können durch
den Besuch der Kirche und das Erleben des Osterfestes. Mit
großen Schwierigkeiten seien sie aber wieder zurückgefahren,
um die Ausreisepapiere für die ganze Familie einzureichen.
Der Auswanderungswunsch ging einher mit innerfamiliären
Konflikten, da wie er, auch die Kinder sich schon auf das
Leben in Rußland eingerichtet hatten, das heißt,
entsprechende familiäre Bindungen auch mit Russen eingegangen
seien und gute berufliche Positionen inne hatten.
Nach Überwindung der bürokratischen Hemmnisse sei
die Auswanderung doch sehr schwer gefallen, da das ganze Dorf,
in dem er gelebt habe, beim Abschied auf den Beinen gewesen
sei. Obwohl es allen schwer gefallen sei, und vor allem seiner
Tochter und seiner Ehefrau, die alle Verwandten habe dort
lassen müssen, sei der Wunsch zur Auswanderung groß
gewesen.
Die erste Zeit in der Bundesrepublik sei von vielen Nöten
und vor allem Geldnöten bestimmt gewesen. Die finanzielle
Abhängigkeit, vor allem in den ersten drei Monaten, von
dem Bruder, sei sehr schwer gefallen. Auch nachdem der Bezug
von Geld durch das Sozial- und Arbeitsamt möglich gewesen
wäre, sei ihm das Empfangen des Geldes wie betteln vorgekommen.
Die ersten Eindrücke (ein Feuerwerk an Silvester) seien
sehr bizarr gewesen. Auch hätte ihn dabei das Gefühl
begleitet, das soviel Geld in die Luft geschossen werde und
so viele Menschen, mit denen er gelebt habe, nichts zu essen
gehabt hätten.
Die Angst vor dem Neuen, vor allem die ungewohnte Sprachlosigkeit,
seien ihm zu Anfang sehr, sehr schwer gefallen. Es sei ihm
da auch bewußt geworden, daß er das Medium der
Sprache, welches sein Handwerkszeug in seiner Arbeit vor allem
war, er nicht mehr einsetzen konnte. Dies sei mit dem Gefühl
einhergegangen, daß er nicht mehr gebraucht werde.
Obwohl es schwer auszuhalten gewesen sei, habe er sich der
Situation gestellt und sich bemüht, so schnell und so
gut wie möglich Deutsch zu lernen. Er habe sich vor seiner
Ausreise nicht vorstellen können, daß es so schwierig
werden würde. Er sei auch davon ausgegangen, daß
er bald eine Arbeit bekäme. Doch seine vielen Bewerbungen
seien ergebnislos geblieben. Dies hätte ihn in seinem
Gefühl der Ablehnung und daß er nicht mehr gebraucht
werde und aus der Welt "ausgestrichen" worden sei
verstärkt. Denn sein Lebensinhalt sei immer Arbeit gewesen.
Daß seine Frau bald nach Ankunft in der Bundesrepublik
eine Anstellung gefunden habe, habe ihm weiterhin zu schaffen
gemacht, da nun seine Frau für den Lebensunterhalt zuständig
gewesen sei. Das Gefühl, daß er im Bett liegen
bleiben könne und die Frau früh morgens aufstehen
müsse habe ihn unentwegt belastet.
Trotz der vielen Hoffnung, und dem Wunsch seit der Kindheit,
nach Deutschland zurückzukehren, habe er jetzt das Gefühl,
daß Deutschland doch nicht sein Zuhause sei. Er denke
aber, er werde sich langsam daran gewöhnen müssen,
weil er keine andere Möglichkeit habe.
Das Gewöhnen fiele ihm schwer, da auch das Zusammenleben
in Deutschland anders sei als er es gewohnt gewesen sei. Den
Familienzusammenhalt und die Hilfsbereitschaft untereinander
würde er sehr vermissen. Sein Engagement, welches er
seinem Dorf in Rußland entgegengebracht habe, und ständig
hilfsbereit gewesen sei, sei in Deutschland nicht gefragt.
Da der Kontakt zu den anderen Menschen fehle, habe er auch
das Gefühl, nicht gebraucht zu sein.
Durch die viele körperlich anstrengende Arbeit in der
Vergangenheit kenne er viele Leiden an seinem Körper.
Seine Gelenke und Knochen schmerzten seit Jahren. Die Situation
aber, daß er ständig mit Gedanken beschäftigt
sei, die ihn nicht mehr losließen und er nicht mehr
abschalten könne, sei neu. Er könne nicht mehr schlafen,
habe Kopfschmerzen und die körperlichen Beschwerden vor
allem in den Armen und den Händen hätten zugenommen.
Er habe auch das Gefühl "total kaputt zu sein".
Er würde dies auch von sich nicht kennen, da er immer
"so ein Lustiger" gewesen sei. Er könne nicht
mehr ruhig sein, die Gedanken an die Zukunft ließen
ihn nicht in Ruhe. Auch durchschlafen wäre für ihn
nicht mehr möglich.
Das Gefühl "aus der Welt rausgeschmissen" worden
zu sein und keinen Platz mehr zu haben beschäftige ihn
ständig. Auch aus diesem Gefühl heraus habe er eine
ABM-Stelle angenommen. Zum einen habe ihn die finanzielle
Situation dazu angehalten, zum anderen sei aber das Gefühl,
er könne nicht nutzlos den ganzen Tag zu Hause sein und
müsse etwas tun, im Vordergrund gestanden. Obwohl er
unter schweren körperlichen Beschwerden diese Arbeit
täte, bei Arbeiten, die er kopfüber ausführen
müßte (z.B. Unkraut jäten) habe er das Gefühl,
ihm könne der Kopf zerplatzen. Er sei auch nach der Arbeit
"total fertig".
Er verstünde auch die Behörden und Ämter nicht.
Jede Behörde würde ihm eine andere Auskunft geben.
Er sei ganz durcheinander und wisse nicht, was er tun solle
und wie er sich entscheiden solle. Die Auskunft des Arbeitsamtes,
daß er nicht mehr vermittelbar wäre und einen Rentenantrag
stellen solle, was er auch getan habe und die Vermittlung
an eine ABM-Stelle, die er auch angetreten habe, seien für
ihn unverständlich. Er möge aber kein nutzloser
Mensch sein und deshalb habe er die Arbeit angenommen. Sein
Wunsch sei es aber, seine Gesundheit zurückzubekommen
und zur Ruhe zu kommen.
Zusammenfassend ergibt sich folgender Befund:
Bei Herrn G. handelt es sich um einen intellektuell differenzierten,
zurückhaltenden und mit ausgeprägten Bewältigungsmechanismen
ausgestatteten älteren Mann. Die frühen belastenden
Ereignisse und das entbehrungsreiche Leben, haben Kompetenzen
ausgebildet, die aus den schwierigsten Lebenssituationen Möglichkeiten
zur Bewältigung schaffen. Grundlage dieser Kompetenzen
sind der frühe Familienzusammenhalt, der aus der Lebenssituation
überlebensnotwendig war. Daraus resultierte ein Zusammenhalt
und eine frühe Verantwortung für die Familie. Ausgangssituation
war lange Zeit in der frühen Kindheit und im frühen
Erwachsenenalter die Grundbedürfnisse zu sichern, um
das Leben zu erhalten. Ein weiterer Faktor, der Bewältigungsmechanismen
derart ausbildete, ist die Ethnizität. Das Leben als
Deutscher unter russischer Herrschaft in menschenunwürdigen
Bedingungen förderten die Kompetenz des Überlebenskampfes.
Dabei stehen persönliche Wünsche nicht im Vordergrund.
Die Leistungsorientierung stellt eine Möglichkeit dar,
die Lebenssituation zu verbessern. So stand im Vordergrund
die Sicherstellung der Schule. Das Spüren des Deutschseins,
welches sich auswirkte in Tätigkeiten niedriger Stellung,
förderte die starke Lernmotivation. Die Behandlung durch
die Russen forderte eine Unterordnung. Die einzige Möglichkeit,
unter der Repression einen Erfolg zu erzielen, war durch Anpassung
und Unauffälligkeit. Treibend war das Gefühl, unter
den Russen besser zu sein. Dies wurde durch fleißig
sein, Ausführung von guten Arbeiten und guter Qualität
sichergestellt. "Gut sein" verschaffte Anerkennung.
Der Satz "als Deutscher mußt du unter den Russen
besser sein" war auch der begleitende Lebenssatz.
Diese Strategie bewährte sich im Laufe des berufliche
Erfolgs so weit, daß er als einziger Deutscher unter
Russen als Leiter einer Solchose, einer geheimen Stadt, angestellt
wurde. Die soziale Anpassung und Anerkennung erwarb sich Herr
G. dadurch, daß er die stringente Ethnizität verließ.
Er machte sich das Prinzip "der Mensch zählt"
zu eigen und lebte Kontakte und Austausch mit Russen derart,
daß er keine Unterschiede zwischen Russen und Deutschen
machte. Sein Prinzip war es, keine Fehler zu machen und gute
Arbeit zu leisten. Damit sicherte er sich das Ansehen und
den beruflichen Erfolg. Trotz der Bemühungen, die Ethnizität
nicht in den Vordergrund treten zu lassen, und ständig
um Aufrichtigkeit, Arbeit und Qualität bemüht zu
sein, blieb jedoch der prägende Satz der Russen "schau
dich an, wer du bist" ständig begleitend. Dies war
begleitet mit der Angst, keine Fehler machen zu dürfen,
damit dies nicht auf das Deutschsein zurückgeführt
werden kann. Trotz seiner starken Assimilationstendenzen und
den Bemühungen sich entsprechend anzupassen, wurde er
immer an kritischen Punkten (Wahrheiten über die kommunistische
Herrschaft) an seine Ethnizität erinnert. Dies verschärfte
das Gefühl des Andersseins.
Darin mag auch der Grund dafür liegen, daß er an
seinem Prinzip "Anerkennung durch Fleiß, Ehrlichkeit,
Aufrichtigkeit und Arbeitsleistung" festhielt und nicht
in die Kommunistische Partei, als Vehikel zum Erfolg, beitrat.
Dies mündete auch in dem Satz "wenn ich ehrlich
und aufrichtig bin, brauche ich den Kommunismus nicht, um
weiterzukommen".
Durch die erbrachte Leistung und Qualität bewährte
sich dieses Prinzip durch die Jahre. Er wurde auch darin bestätigt,
daß er als Deutschstämmiger die Leitung von Russen
übernehmen konnte.
Diese Einstellung gab er auch seiner Familie und seinen Kindern
weiter. Die Assimilationstendenz in die russische Gesellschaft,
brachte es mit sich, daß die Kinder russischstämmige
Frauen heirateten. Durch die Antragstellung zur Ausreise der
gesamten Familie brachen die innerfamiliären Konflikte
und damit auch die Ethnizitätsfrage wieder auf. Viele
Jahr waren mit dem Gefühl vergangen, in Rußland
zu leben und entsprechend voranzukommen. Die Jüngeren
hatten sich auf das Leben in Rußland eingelassen und
entsprechend Familien gegründet.
Ein wichtiger Faktor der erworbenen Bewältigungsmechanismen
war der Zusammenhalt der Familie. Dieser wurde jetzt durch
die Einheiratung russischer Frauen in die Familie gefährdet.
Wurde der "Verlust des Familienzusammenhangs" früher
durch den Krieg infrage gestellt, war es jetzt die Frage der
Staatsangehörigkeit. Innerfamiliär wurde das Thema
der Ethnizität nochmals zentral. Die Ausreise belastete
den Familienzusammenhalt dahingehend, daß eine Eingeheiratete
nicht ausreisen wollte und in Rußland weiterleben wollte.
Auch das Unwissen darüber, worin die genauen Beweggründe
dieser Entscheidung lagen, spricht für das sich Einlassen
in das russische Leben.
Auch für die Ehefrau und die Tochter übernahm Herr
G. die Verantwortung. Mit dem Wunsch der Ausreise nach Deutschland
verband sich, daß die Tochter eine gute Stellung aufgeben
mußte und die Frau ihre Familie zurücklassen mußte.
Trotz der vielen verletzenden Erfahrungen der Ethnizität
(Vorurteile gegenüber Deutschstämmigen) spürte
Herr G. die erfolgreichen Bemühungen um Gleichheit und
Anerkennung. Beim Abschied von seinem Dorf spürte er
die Verwurzelung und das Eingelassensein auf die russischen
Menschen. Die nicht mehr gefühlte Ablehnung, aber das
Bewußtsein des Deutschseins und die hypothetische Möglichkeit
in die Heimat zurückzukehren können ermöglichte
eine Option der Distanzierung zu den Russen. Nachdem sich
die Ausreise bewahrheitete, wurde das Eingelassensein und
die Verbindung deutlich. Es wurde das Gefühl der Verwurzelung
mit diesen Menschen bewußt. Auch die Feststellung, daß
sein Leben mit und für diese Menschen war, konnte er
im Moment des Abschieds erleben. Seine Anerkennung und sein
"Lebenswerk" wurden spürbar.
Verstärkt wurde dieses Gefühl durch die Erfahrung
der ersten Zeit in Deutschland. Die Situation alles an Anerkennung,
Wohlstand für die Einwanderung aufgegeben zu haben, wurde
nochmals bewußt. Die erste Zeit war von der Last der
Verantwortung, des wenigen Geldes geprägt. Dies brachte
Schuldgefühle mit sich, ob die Entscheidung wohl richtig
gewesen sei und vor allem schwer zu ertragende Abhängigkeitsgefühle.
Er hatte viel in seinem Leben dafür getan, um aus der
Abhängigkeit von den Russen herauszukommen. Mit der Entscheidung
des Neuanfangs, ging auch wieder eine Abhängigkeit einher.
Nach der errungenen Stellung als Solchose-Leiter, daß
ihm ein nach russischen Verhältnissen gutes Einkommen
sicherte, ging die Situation vom Bruder Geld annehmen zu müssen,
mit einem Gefühl der Erniedrigung einher, da er nicht
mehr für sich selber hatte sorgen können. Auch die
Situation auf staatliche Zuwendungen angewiesen zu sein verstärkten
das Gefühl der Abhängigkeit und eines Bettlerdaseins.
In der Dynamik davon Schuld auf sich geladen zu haben und
jetzt in einem unbeweglichen Abhängigkeitsgefühl
zu sein, kamen ihm hiesige Eindrücke bizarr vor. Im Vergleichsprozeß
von früher und jetzigem Lebensgefühl wurde das Verbunden-
und Verwachsensein mit dem Lebensgefühl und den Lebensbedingungen
in Rußland verstärkt.
Auch die Hauptkompetenz, als kommunikativer und eingelassener
Mann mit seinem Umfeld verwachsen zu sein und das Innehaben
einer leitenden Position und die daraus erwachsenden Kompetenzen
konnten nicht aktiviert werden. Die Sprachlosigkeit (die rudimentären
und unsicheren Kenntnisse der deutschen Sprache) gingen mit
dem Gefühl der Entmündigung auf sozialer, ökonomischer
und sprachlicher Ebene einher. Dies mündete im Gefühl
von Wertlosigkeit "mich braucht keiner mehr". Zur
Folge hatte dies den Rückzug, die Isolation und die Kontaktarmut.
Begleitet war dies von dem Gedanken und dem Wunsch, alles
rückgängig zu machen.
Die erworbene Fähigkeit, in schwierigen Lebenssituationen
zu bestehen, weckte alte Bewältigungsmechanismen. Die
Lebensregel, daß durch Fleiß, Arbeit und Lernen
Erfolge zu erzielen sind, wurde wieder aktiviert. So konnten
auch die Potentiale genutzt werden, Deutsch zu lernen, um
das "wesentliche Handwerkszeug" wieder zu erlangen.
Alle Möglichkeiten (Fernsehen, Einkaufen, Deutschkurs)
wurden genutzt um den Spracherwerb sicherzustellen. Dies hatte
auch zur Folge, daß langsame Kontaktaufnahme zu Nachbarn
möglich waren. Dies ging auch mit einer Besserung einher.
Wesentlich blieb aber trotzdem der Kontakt zur Familie und
zu anderen Aussiedlern.
Die Ausreise in die Bundesrepublik war besetzt von einer ökonomischen,
kulturellen Verbesserungsvorstellung. Die aktuelle Situation
stellte sich aber so dar, daß er ökonomisch schlecht
da stand (arbeitslos) und seine kulturellen Möglichkeiten
sich darauf beschränken, in die Kirche zu gehen, Feste
zu feiern und mit anderen Aussiedlern im Austausch zu sein.
Die durch die Jahrzente im Geiste konservierte Vorstellung
über die 'deutsche Heitmat' kann nicht ausgelebt werden.
Die Situation, daß die Ehefrau bald eine Anstellung
bekam, und er gezwungen war, den Haushalt zu übernehmen
ging mit einem Rollen- und Statusverlust einher, mit dem Gefühl
der "verdrehten Welt" da.
Das Leben in Rußland war davon bestimmt, daß er
mit dem Gefühl lebte, daß er ein Deutscher unter
den Russen gewesen ist. Und immer wieder darauf aufmerksam
gemacht wurde. Traumatisch ist das erlebte Gefühl in
Deutschland, als Deutscher als Russe betitelt zu werden und
ebenfalls als Aussiedler eine Ablehnung zu erfahren. Dies
macht ihm auch das Gefühl von "zu Hause zu sein"
schwer. Das Selbstwertgefühl ist stark tangiert.
Verstärkt wird der Rollenverlust und das schlecht zu
bewältigende Gefühl, daß er in seiner Selbstwahrnehmung
ein ausgebildeter Fachmann ist und hier allen Möglichkeiten
enthoben ist.
Stellungnahme:
Herr G. weißt alle Anzeichen für eine Entwurzelungsdepression
auf.
Nach Kienle (1965) wird unter Entwurzelung das Herausgelöst-
bzw. Herausgerissen werden aus den instinktiven und seelischen
Bindungen bzw. aus der Abhängigkeit von der landschaftlichen,
sozialen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Umgebung
der Menschen insofern sie sein Lebensgefühl und sein
Persönlichkeitsgefühl maßgeblich konstituieren,
verstanden. Die Migrationsliteratur, auf die hier nicht im
Einzelnen eingegangen werden kann, beschreibt das Entwurzelungssyndrom
sehr vielfältig. Charakteristisch für die Entwurzelungssituation
ist, insbesondere für die Menschen, die freiwillig in
ein anderes Land einwandern, daß sie von einem Kulturkreis
in einen anderen überwechseln. Dies trifft auch für
Herrn G. zu, da er, trotz den Versuchen deutsche kulturelle
Eigenarten zu erhalten, bestrebt war, sich in die russische
Gesellschaft zu integrieren und vielfältige Assimilationsprozesse
durchlaufen hat, bis er den sozialen Status den er Innehatte,
erlangen konnte. So hat er auch den russischen Lebens- und
Kulturkontext internalisiert.
Der Lebensstil des neuen Kulturkreises unterscheidet sich
von dem des alten Kulturkreises erheblich. Die zwischenmenschlichen
und familiären Beziehungen werden völlig anders
gestaltet und es gelten andere Normen. Das Leben nach den
russischen Normen war die Voraussetzung zur Eingliederung
und Anpassung in den geforderten russischen Kontext, der Bedingung
war, um erfolgreich zu sein. Die deutschen kulturellen Normen
und Werte wurden rudimentär, aber vor allem im Geiste
ausgelebt.
Es handelte sich um Vorstellungen, die v.a. von der älteren
Generation aufrecht erhalten wurden. Eine Verbindung und einen
Bezug zur kulturellen Entwicklung und Veränderung der
deutschen Kultur gab es nicht.
Die Aufrechterhaltung des deutschen Kulturgutes, der einen
identitätsstiftenden Faktor hatte, reichte aber nicht
aus, um sich von den gewohnten gesellschaftlichen, sozialen
und kulturellen Bindungen automatisch mit der Übersiedlung
nach Deutschland zu lösen. Die Vorstellung auf einen
unverfälschten vorherigen Zustand (Vorstellungen über
das deutsche Kulturgefüge) stellt sich als Wunschbild
dar, und das selbstverständliche Zugehörigkeitsgefühl
wird durchbrochen. Er befindet sich wieder am Rand.
Die Literatur geht eher davon aus, daß der Ablösungsprozeß
häufig einen sehr langen Zeitraum in Anspruch nimmt und
meist sehr konflikthaft verläuft (vgl. Kienle).
Die Erwartungen an "das alte Heimatland" waren sehr
hoch gespannt, was bei Herrn G. zu vielen Enttäuschungen
führte. Die Vorstellung von der Zukunft konzentrierte
sich nur auf wenige Aspekte (neue Arbeit, wirtschaftliche
Situation, unter Deutschen sein). Andere Aspekte des sozialen
Lebens wurden nicht bedacht.
Mit der Entwurzelung gehen Rang- und Statusverlust sowie die
Einbuße an sozialen Beziehungen einher. Dies ist bei
Herrn G. besonders ausgeprägt. In seinem Lebensgefühl,
ein angesehener leitender Mann zu sein und einen Rang und
Status auszufüllen, erfährt er in Deutschland, daß
er nicht gebraucht wird. Dies führt zu einer tiefgreifenden
seelischen Belastung. Die belastende Situation wird dadurch
verstärkt, daß es eine unerwartete Barriere im
Zusammensein mit der deutschen Bevölkerung gibt. Seine
mangelnden Sprachkenntnisse verhindern die Kommunikation,
die als wichtige Basis der Integration anzusehen ist.
Möller 1975 hebt als psychische Konsequenzen der Entwurzelung
Isolation, persönliche Unsicherheit, Relativierung der
alten Werte, Angst und Kommunikationsarmut hervor. Bei Herrn
G. sind Isolationstendenzen im Sinne des Rückzugs und
des sich Verschließens innerhalb der Wohnung festzustellen.
Die tiefgreifende Enthebung der Anerkennung durch Arbeit führt
zu Selbstwertstörungen und persönlicher Unsicherheit.
Auch die Situation, daß die Ehefrau für das Auskommen
sorgt und er als Mann sich in eine Frauenrolle gedrängt
fühlt, verstärkt dies weiterhin. Die Betrachtung
der deutschen Lebenswelt mit der großen Arbeitslosigkeit
, den familiären Beziehungen und die mangelnde Hilfsbereitschaft
untereinander führt noch einmal zur Auseinandersetzung
mit den alten Werten und eine genauere Positionsbeschreibung.
Die aus den Lebensumständen notwendige Solidarität
untereinander und die Bewertung dessen wird nochmals zentral.
Die ungewisse Zukunft mit finanziellen Nöten und die
Arbeitslosigkeit lösen starke Ängste über die
Zukunft aus.
Die Nichtberrschung, bzw. die nicht ausreichenden Sprachkenntnisse
führen zu Rückzug und Kommunikationsarmut mit dem
Umfeld.
Ebermann und Möllhopp 1957 berichten folgende Stufen
der Entwurzelung und Eingewöhnung in eine neue Kultur:
1. Die Initialphase nach der Einwanderung ist gekennzeichnet
durch subjektives Wohlbefinden und Euphorie.
2. Nach der Initialphase kommt es zu einer zunehmen starken
Unsicherheit und Ängstlichkeit. Die Kontaktversuche mit
der neuen Umgebung scheitern.
3. Vermehrte Anstrengungen in dieser Hinsicht erreichen nur
Abwendung, so entsteht eine tiefe Frustration.
4. Die Zugewanderten geraten immer weiter in affektive Isolierung.
Herrn G. ist in der ersten Phase über die Wiedererlangung
der alten Heimat affektiv positiv besetzt. Auch die Euphorie
einer neuen Lebensgestaltung, die einhergeht mit einer Arbeit
und finanzieller Absicherung ist kennzeichnend.
Die Unsicherheit über die Zukunft und die finanzielle
Absicherung ist durch die erfolglosen Arbeitsaufnahme versuche
verstärkt, auch eine Ängstlichkeit vor der Zukunft
steigt stetig an. Seine ersten Kontaktversuche mit der neuen
Umgebung scheitern an mangelnden Sprachkenntnissen.
Nach der ersten Phase der Frustration, kann Herr G. seine
alten Bewältigungsmechanismen aktivieren und aus der
schwierigen Lebenssituation Kräfte mobilisieren, die
es ihm ermöglichen mit der Situation umzugehen. Er kanalisiert
seine Kräfte und verbessert seine Sprachkenntnisse in
der Kenntnis, daß die Sprache die einzige Möglichkeit
ist, seine Situation zu verbessern.
Da Herr G. mit Familie und anderen Aussiedlern in ständigem
Kontakt steht, kann er die Ressourcen des Zusammenhalts nutzen
und verhindert dadurch eine starke affektive Isolierung.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Herr
G. durch die Lebensbedingungen in der frühen Kindheit
und im frühen Erwachsenenalter Kompetenzen zur Bewältigung
von Krisensituationen erworben hat, die es ihm ermöglichen
in schwierigen Lebenssituationen zu bestehen. Leitende Lebensprinzipien
der Erwerb von Anerkennung durch Arbeit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit,
die ein stabiles Selbstbild und Selbstwertgefühl zur
Folge haben. Er kann auch auf ein erfolgreiches Leben in der
Vergangenheit zurückblicken.
Die durch die Aussiedlung hervorgerufene Krise (Verlust von
wichtigen sozialen Bindungen, Verlust der Anerkennung, Verlust
der relativen ökonomischen Sicherheit, Verlust von Autorität,
Statusverlust, Rollenverschiebung durch die Arbeitsaufnahme
der Ehefrau, das Gefühl der Wertlosigkeit, Schuldgefühle
gegenüber der Tochter und der Ehefrau, der Wunsch alles
rückgängig machen zu wollen, die finanzielle Notsituation,
die Abhängigkeit von finanziellen Zuwendungen, die einhergehen
mit dem Gefühl der Entmündigung, das Gefühl
der Nutzlosigkeit und die Ängste und Zweifel vor der
Zukunft) münden in der ersten Phase des Aufenthaltes
in eine depressive Symptomatik. Dies geht einher mit starken
Kopfschmerzen, Antriebshemmung, einem Morgentief, Grübelattacken
mit kreisförmigen Gedankengängen, massiven Schlafstörungen,
mit Magenbeschwerden, mit vorzeitiger Ermüdbarkeit und
Konzentrationsstörung und Minderung der emotionalen Schwingungsfähigkeit.
Die beschriebene Symptomatik geht einher mit einer zunehmenden
Somatisierung der Beschwerden. Aktuell zur Zeit der Exploration
werden beschrieben: ständige Kopfschmerzen, Schmerzen
in den Knochen und Gelenken, besonders in den Schultern und
Armen, vor allem der linken Schulter, Verschleißerscheinungen.
Weiterhin schwere Beine und Schmerzen darin, Rückenleiden,
die Hände könnten nicht mehr fassen und er hätte
keine Kraft mehr zu greifen.
Diagnostisch kann von einer somatisierten Depression (Entwurzelungsdepression)
ausgegangen werden.
Bei Herrn G. ist aber weiterhin davon auszugehen, daß
seine erworbenen Kompetenzen aufgrund der Lebenserfahrungen
in Rußland, damit sind die erworbenen Bewältigungsstrategien
für die Verarbeitung von Streßoren gemeint, sogenannte
coping-strategien, also Fähigkeiten eines Menschen, Probleme
und deren emotionale Folgen zu verarbeiten, besonders ausgeprägt
sind. Er hat Verhaltensweisen entwickelt, die zur Überwindung
von psychischen Veränderungen förderlich sind. Diese
Lebensenergie setzt er um, indem er sich aktiv mit seiner
Lebenssituation auseinandersetzt. (Herstellung von Kommunikationssituationen,
Erwerb der deutschen Sprache, Bewerbungstraining und eine
Vielzahl von Bewerbungen).
Dies mündet darin, daß er trotz der schwere seiner
psychischen und körperlichen Leiden, eine Anstellung
als Garten- und Landschaftspfleger bei der Stadt D. (ABM-Stelle)
annimmt.
So überfordert er sich körperlich und in seinem
Leistungsvermögen um der schweren psychischen Belastung
entgegenzuwirken. Arbeit als Lebens- und Überlebensprinzip
hat er auch in dieser Situation übernommen. Die psychische
Belastung (somatisierte Entwurzelungsdepression) ist jedoch
so groß, daß er sie nicht erfolgreich abwenden
kann und sich sein Beschwerdebild stabil hält.
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