Wenn wir uns mit menschlichen Phänomenen
beschäftigen, so nähern wir uns diesen unwirkürlich
mit einer Vorstellung über den Menschen. Wir gehen von
Annahmen und Sichtweisen über das Funktionieren von Menschen
aus. Diese Grundannahmen basieren auf einer Menschenbildkonzeption
und einem Weltbezug, also einer Wirklichkeitskonstruktion.
Diese Konzeption und Konstruktion lebt von Wert- und Sinnfragen.
Eigenverantwortung und damit auch Selbstverantwortung und
die Verantwortung für das eigene Ich, ist stark von der
kulturellen Wertigkeit dieses (Persönlichkeits-)merkmals
abhängig. Die Bedeutung des Ich, als rationale reflektierende
Instanz im Freudschen Sinne basiert auf einem Kulturstandard
nach westlichem Menschenbild.
"Unter Kulturstandard werden alle Arten des Wahrnehmens,
Denkens, Wertens und Handelns verstanden, die von der Mehrzahl
der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich persönlich
und andere als normal, selbstverständlich, typisch und
verbindlich angesehen werden. Eigenes und fremdes Verhalten
wird auf der Grundlage dieses Standards beurteilt und reguliert.
Als zentrale Kulturstandards sind solche zu bezeichnen, die
in sehr unterschiedlichen Situationen wirksam werden und weite
Bereiche der Wahrnehmung, des Denkens, Wertens und Handelns
regulieren und die insbesondere für die Steuerung der
Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsprozesse zwischen
Personen bedeutsam sind" (Thomas 1993:381).
Bei der Betrachtung der Eigenverantwortlichkeit aus transkultureller
Perspektive stoßen wir auf Fragen nach Unterschieden
und Ähnlichkeiten von menschlicher und damit psychischer
Entwicklung und nach Bestimmungsstücken unterschiedlicher
Weltbezüge.
Im folgenden möchte ich auf die Unterschiedlichkeit von
der Wert- und Sinnfrage bzgl. der Eigenverantwortung am Beispiel
orientalischer Kulturen näher eingehen.
Kulturen unterscheiden sich u.a. durch ihren
Umgang mit Sanktionen und Beschränkungen. Der "locus
of control" (Rotter) ist der Grad der Internalisierung
der Eigenverantwortlichkeit bzgl. der Einhaltung von Richtlinien
und Verboten. Beim "locus of control" handelt es
sich um generalisierte Kontrollüberzeugungen; zentral
ist hier die Frage, ob eher internale, im Individuum selbst
liegende Ursachen oder eher externale, auf andere Menschen
wirkende bzw. auf die Umwelt zurückgehende Ursachen im
Leben eines anderen Menschen bestimmend sind.
Bei den "internalisierenden Kulturen" (eher westlich
geprägte Kulturen) werden die Verhaltensrichtlinien verinnerlicht,
d.h. daß starke Anforderungen an die 'Moral' und das
'Gewissen' des Einzelnen gestellt werden. "Externalisierende
Kulturen" sorgen hingegen durch strenge Kontrolle der
situativen Faktoren dafür, daß gegen allgemeingültige
Verhaltensnormen nur unter größten Schwierigkeiten
verstoßen werden kann. Bei Verstößen gegen
die Norm werden außer Persönlichkeitsvariablen
in starkem Maße situative Faktoren verantwortlich gemacht
(situative Kausalattribution). Die starke soziale Kontrolle
läßt dem Einzelnen nur geringen persönlichen
Freiraum (vgl. Özelsel 1990). In externalisierenden Kulturen
ist das Zusammenleben stark von dem Einfluß anderer
abhängig. Konzepte über das "Ich" sind
nicht individualistisch getönt, wie dies in der westlichen
Auffassung über die Persönlichkeit eines Menschen
vorherrscht. Ein Angehöriger dieser Lebensform sieht
sich in Verbindung zu den anderen und beschreibt sich selbst
auch über andere: zum Beispiel "Ich bin der Sohn
von ...". Im angestrebten Idealfall entsteht durch gegenseitige
Ergängzung eine Art "Kollektivwesen" (Özelsel).
Dieses Lebensgefüge läßt sich ähnlich
wie ein Organismus beschreiben. Alle einzelnen Teile (Organe)
wirken in Abhängigkeit zueinander zusammen und können
erst dadurch als Gesamtes existieren. Die Wirklichkeitskonstruktion
ist mit den "Anderen" verbunden. Der Einzelne ist
wichtig im Sinne seiner Einbettung in die übergeordneten
Systeme der Familie und näherer Umgebung (Nachbarschaft).
Hierbei überwiegt der "kollektive Gedanke".
Die gesellschaftlich definierten Funktionen und Organisationsstrukturen
von Familie beinhalten kulturspezifische Sozialisationsziele
mit sehr unterschiedlichen Erziehungspraktiken (vgl. Özelsel
1990).
Unterschiede in der Bewertung der Eigenverantwortlichkeit
aus der Sicht der orientalischen Kulturen werden besonders
in der Kindererziehung deutlich. Kindliches Verhalten, welches
nicht den erwarteten Standards und Normen entspricht, wie
zum Beispiel ungebührtiges Verhalten bei Besuchen, Lügen
oder Stehlen, wird nicht als Schwäche der kindlichen
Persönlichkeit, sondern als Schwäche und Versäumnis
der Älteren, die Situation entsprechend zu strukturieren,
angesehen.
Die Konzepte hiesiger Erziehungsvorstellungen , die vorwiegend
auf der Förderung, Entwicklung und Stärkung von
Handlungs- und Konfliktbewältigungskompetenz, Selbständigkeit,
Unabhängigkeit sowie Entscheidungskraft und vor allem
Eigenverantwortlichkeit aufbauen, entsprechen orientalischen
Konzepten nur rudimentär. Die Kindererziehung sieht weniger
die Förderung des Konzepts einer starken und eigenverantwortlichen
Persönlichkeit vor, sondern ist erwartungsorientiert,
im Sinne des Hineinwachsens und Übernehmens von alters-
und rollenentsprechenden Kulturstandards.
Als oberstes Erziehungsziel gilt die An- und Einpassung des
Kindes in das Kolletivgefüge. Erziehungsziel und damit
die Aufgabe der Sozialisation ist die Begleitung in das Hineinwachsen
in eine Rollenerwartung. Dementsprechend ist das praktische
Erziehungsverhalten der Eltern von der Notwendigkeit geprägt,
Kinder zum Gehorsam, Respekt und Achtung vor dem Ranghöheren
zu erziehen. Einer Erziehung zur Selbständigkeit und
Eigenverantwortung wird weniger Gewicht beigemessen.
Achtung ist in seinen Äußerungsformen an die Einhaltung
bestimmter formalisierter Verhaltensweisen - insbesondere
gegenüber dem Vater und Älteren - gebunden. Die
Nichteinhaltung bestimmter Verhaltensweisen wird als Achtungslosigkeit
seitens des Kindes und als fehlende Autorität seitens
des Vaters, der ein solches Verhalten duldet, interpretiert.
In seiner Position als Haushaltsvorstand hat der Vater unter
anderem die Aufgabe, das Verhalten der übrigen Familienmitglieder
zu kontrollieren und seine Kinder bei ungebührlichem
Verhalten zu bestrafen, um Normabweichungen zu verhindern.
Es herrscht ein patriarchalisch hierarchische Familienstruktur
vor. Alle Familienbeziehungen und Verhaltensweisen der einzelnen
Familienmitglieder orientieren sich am Vorrang und der Autorität
des Vaters und an einer, von allen anerkannten familiären
Rangordnung, die sich aus dem Geschlecht, dem Alter und der
verwandtschaftlichen Position innerhalb der (Groß)familie
ergibt.
Die Respektierung der Autorität des Vaters zeigt sich
nicht nur in der Unterwerfung unter die Entscheidungen des
Vaters, sondern auch im Verbot, unaufgefordert in Anwesenheit
des Vaters zu sprechen, im Beisein des Vaters, eines älteren
Bruders oder Onkels zu rauchen, über alle finanziellen
Einnahmen der Familienmitglieder zu verfügen und kann
bis zu der Mitwirkung bei der Brautwahl gehen. Gehorsam spielt
eine zentrale Rolle.
Wert- und Sinnfragen
"Es ist besser das Leben, als die Ehre zu verlieren",
so ein türkisches Sprichwort. Die Ehre ist die zentralste
Wert- und Sinnfrage des Lebens in diesen Kulturkreisen. "Die
Ehre ist das Einzige, wofür es sich lohnt zu leben."
Den Wert, den man auf die Ehre legt, betont die Bedeutung
der eigenen Integrität und Unversehrtheit, sowie der
nächsten Angehörigen (vgl. Schiffauer 1980). Die
Ehre als Wert- und Sinnfrage ist der Kristalisationspunkt
des Lebens.
Semantisch läßt sich "Ehre" in der türkischen
Sprache in drei Hauptbereiche aufteilen: namus, ºeref
und onur.
Die Ehre (Namus) des Mannes
Namus des Mannes ist kurz nach der Heirat und später
noch einmal, wenn seine Töchter heiratsfähig werden,
am verletzlichsten. Die Ehefrau stellt die größte
Gefahr für die Ehre des Mannes dar, da sie es ist, die
die Ehre am nachhaltigsten ruinieren kann. Die Ehre des Mannes
ist angegriffen, wenn eine unerlaubte Überschreitung
der Grenze seines Besitzes stattfindet, wenn es zu einer Annäherung
eines anderen Mannes an die ihm zugehörigen Frauen kommt
oder wenn er oder ein Angehöriger seiner Familie verbal
oder physisch angegriffen werden. Mit dem Ehrbegriff des Mannes
wird Männlichkeit, Stärke, Selbstbewußtsein,
in der Lage sein, die Frauen seiner Familie davon abzuhalten,
ihre Ehre aufs Spiel zu setzen, assoziiert. (vgl. auch Petersen
1985)
Die Ehre (Namus) der Frau
Der Begriff Namus bezieht sich bei der Frau vor allem auf
die Sexualität. Namus kann nicht erworben werden. Eine
Frau kann nur Namus besitzen oder diese beflecken bzw. verlieren.
Eine Frau befleckt ihre Ehre , wenn sie vor oder außerhalb
der Ehe mit einem Mann sexuell verkehrt oder sich in eine
Situation begibt oder gezwungen wird, in der dies möglich
wäre. Unabhängig davon, was tatsächlich geschieht,
genügt die Möglichkeit, daß hätte etwas
geschehen können, um sie zu entehren. Diese Entehrung
ist dann endgültig.
Geht die Frau eine voreheliche oder außereheliche Beziehung
ein, so setzt sie neben ihrer Ehre zugleich die Ehre ihres
Mannes und die Ehre ihrer ganzen Familie aufs Spiel. Sie gilt
als ehrlos und schmutzig (befleckt). Für die Frau gebietet
der Ehrbegriff Keuschheit, sexuelle Enthaltsamkeit bis zur
Ehe, Beschränkung ihrer sexuellen Beziehung auf die Ehe.
Onur und Seref
Diese Begriffe beziehen sich auf die Ehre des Mannes in öffentlichen
Beziehungen. ªeref können nur Männer besitzen,
da dieser Wert in den öffentlichen und politischen Beziehungen
eine Rolle spielt, die die Männer unterhalten. Sie beziehen
sich auf die Stellung des Mannes innerhalb der Gesellschaft.
Männer begegnen sich als Repräsentanten ihrer Familie
und damit ihrer Ehre. Ein Mann hat die Aufgabe, seine Ehre
zu verteidigen. Verliert zum Beispiel eine Frau ihren "Ruf",
so ist der Mann dafür verantwortlich in dem Sinne, daß
er nicht auf sie aufpassen konnte. Damit wird seine Ehre angetastet.
Der Verlust der Ehre ist gleichbedeutend mit dem öffentlichem
Verlust des "Gesichts".
Dieses rigide Wertsystem bedeutet eine Einschränkung
der individuellen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten.
Ein Mensch, der sich nicht an die unumstößlich
vorgegebene Normvorstellung hält, wird aus der Gemeinschaft
ausgestoßen. Durch das "organische Lebensgefüge"
wird ihm gleichzeitig damit auch die Existenzgrundlage in
dieser Gemeinschaft entzogen.
Wirklichkeitskonstruktionen und Eigenverantwortung
Wenn wir uns den oben beschriebenen Ausschnitt der Wirklichkeitskonstruktion
näher vergegenwärtigen, so haben diese Implikationen
weitreichende Folgen für das Veständnis dieser Menschen.
Am Beispiel des möglichen Ehr- und Gesichtsverlustes
der Familie soll diese Dynamik verdeutlicht werden. Ausgangssituation
ist , daß ein türkisches Mädchen am Wochendend
rauchend, heiter und vergnügt in einer Discothek von
einem Landsmann beobachtet wird.
Gemäß der erwarteten Frauenrolle hat dieses Mädchen
sich zu allererst nicht in einer Discothek aufzuhalten. Es
ist ein Ort der Vernügung und potentieller sexueller
Kontakte. Tut sie dies, so ergeben sich folgende Frageoptionen:
Was will dieses Mädchen dort und warum ist sie nicht
in kontrollierter Begleitung?
Entsprechend den Kulturstandards fängt eine Dynamik des
Regelsystems an zu wirken. Eine Frau, die sich an so einem
Ort aufhält muß eine sein, die sich von der vorgegebenen
Rollenzuschreibung entfernt hat. Entfernt sich eine Frau von
ihrer Geschlechterrollenzuweisung, so muß sie etwas
normdifferentes im Schilde führen. Normdifferenz bezieht
sich auf ihre Ehre (namus) als Frau (siehe oben). Sie begibt
sich also in eine Situation in der es potentiell möglich
wäre, daß sie einen sexuellen Kontakt eingeht.
Allein sich von einem Mann ansprechen zu lassen reicht dafür
aus. Mit dieser Einstellung, "ich kann in die Disco gehen
und mich vergnügen" verletzt sie den Kulturstandard
"Frauenrolle" und verliert dadurch ihr Ansehen (ihren
"Ruf als Frau") und hat damit keine Existenzgrundlage
in der Gemeinschaft. Sie hat eine Grenz- und Rollenverletzung
begangen.
In Abhängigkeit des Beziehungverhältnisses zu der
Frau(Verwandtschaft: Vater, Bruder, Onkel oder naher Bekannter
der Familie oder nicht bekannt mit der Frau) des Landsmanns,
setzen Wahrnehmungs- , Beurteilungs,- und Handlungsprozesse
ein. Der Landsmann ist, wenn er mit der Frau im Sinne einer
Verwandschaft oder Bekanntschaft mit der Familie zusammengehört,
an der Situtation "beteiligt". Aus dem organischen
Lebensgefüge heraus, ist er für das Ansehen der
Familie und in "Vertretung" des Familienoberhauptes,
für die Frau verantwortlich. Er muß in die Situation
eingreifen und die Frau aus dem "schädlichen Milieu"
entfernen, damit nicht weiterer Schaden für das Ansehen
der Familie entsteht. Dies kann er autoritär durchführen,
da sich die Frau nicht mehr nach den Regeln verhält.
Entsprechend der Erziehungsvorstellung muß sie notfalls
gewaltsam zum Gehorchen angeleitet werden. Der Eingriff in
die Situation muß erfolgen. Würde der ihr nahestehende
Landsmann nicht eingreifen, so würde er gleichzeitig
bekunden, daß ihm an der Ehre der Familie und auch an
seiner nicht sehr viel gelegen ist. Damit würde er auch
dem Kulturstandard Ehrgefühl zuwiderhandeln. Dies ginge
mit einer Abwertung und auch einer Ausgrenzung seiner Person
aus der Gemeinschaft einher. Eine Person, die sich nicht den
Regeln unterordnen kann, gefährdet das Kollektivgefüge
und ist deshalb nicht haltbar. Er würde aus dem sozialen
Netz ausgeschlossen werden.
Hierbei ist es völlig unerheblich, wie die eigene Einstellung
der Frau und auch des Landsmannes zu der Situation: 'Ein türkisches
Mädchen in der Disco' ist.
Wir sprechen hierbei von einer externalen Kontrollattribution,
denn die auf den Kulturstandards basierienden Bewertungs-
und Handlungskonzepte haben ihr Regulativ im Außen.
Das was die "Anderen" über die Strukturierung
dieser Situation denken könnten, ist die Handlungskategorie.
Im Sinne der Eigenverantwortung für die Situation ist
es völlig unerheblich, ob die Frau oder ihre Familie
eine unterschiedliche Situationsinterpretation vornehmen.
Die "Kollektivverantwortung" entscheidet über
die Steuerung der Wahrnehmung-, Beurteilungs-. und Handlungsprozesse.
Die oben beschriebene externale Kausalattribuierung, d.h.
die Ursachen für eine Handlung werden, außerhalb
der Person angesiedelt, führt dazu, daß das Verhalten
der Frau nicht eigenverantwortlich interpretiert wird, sondern
sie durch die nicht entsprechende Führung und Kontrolle
der Familie, sich in diese eine Situation begeben kann. Hieraus
resultiert, daß der Umgang mit dieser Familie zu meiden
ist, da sie ihren Mitgliedern gestattet bzw. nicht genug Kontrolle
ausüben kann, so daß es möglich wird, daß
weibliche Familienmitglieder sich in diese Situation begeben
können.
Um der sozialen Ausgrenzung zu entgehen ist es für die
Familienehre von unabdingbarer Notwendigkeit alle Belange
zu kontrollieren. Jegliche Nichtkontrolle einer Situation,
könnte den Kulturstandard Familienehre gefährden
und damit auch die Legitimationsbasis für das kollektive
Lebensgefüge.
Die Eigenverantwortlichkeit für das Verhalten ist sekundär.
Ist der Landsmann in dem oben beschriebenen Sinne nicht an
der Situation "beteiligt", so können in Abhängigkeit
seines eigenen Ehrgefühls (onur und seref) folgende Wahrnehmung-,
Beurteilungs-, und Handlungsprozesse ablaufen: Wenn eine Frau
alleine sich in der Discothek aufhält, raucht und sich
amüsiert, so muß es eine Frau sein, die ihr Ehrgefühl
(namus) verloren hat, da sie die Möglichkeit hat, sich
in diese Situation zu begeben, in der sexuelle Kontakte möglich
sind. Wenn eine Frau unehrenhaft (namussuz) ist, so ist es
auch möglich mit ihr in sexuellen Kontakt zu treten,
da sie ihre Existenzgrundlage in einer Gemeinschaft durch
den Verlust ihrer Ehre (namus) verloren hat.
Auch hier spielt die externale situative Kausalattribution
die entscheidende Wahrnehmung- und Beurteilungskategorie.
Auch hier ist die Eigenverantwortung der Frau für den
Situationskontext unerheblich.
An diesem alltäglichen Beispiel werden
die kulturellen Implikationen psychischer Entwicklung und
Bewertung von Situationskontexten sehr deutlich. In diesem
ganzen Situationkontext, wobei auf die kulturimmanenten Mechanismen
der Wiederherstellung der (Familien)ehre hier leider nicht
näher eingegangen werden kann, ist die Eigenverantwortung
für die Kontextbedingungen dieser Frau von sekundärer
Bedeutung. Allein der Situationskontext reicht aus, um ein
Mechanismus von Wahrnehmung, Beurteilung und Handlung auszulösen,
der keine individuelle Beurteilung und Bewertung zuläßt.
Aus dieser Dynamik heraus wird nicht nach persönlichen
Entwicklungen und Veränderungen beurteilt (Eigenverantwortlichkeit
für ein Handeln), sondern nach Kulturstandards, die es
zu erfüllen gilt. Tendenziell gilt, je "östlicher",
um so geringer der Glaube an eigene Einflußmöglichkeiten
(vgl. Özelsel). Das Fühlen, Denken und Handeln eines
Menschen hat deshalb eine starke kulturabhängige Dimension.
So basiert das Konzept der Eigenverantwortung stark auf einer
westlich geprägten kulturellen Wertorientierung.
Das Konzept der Eigenverantwortung in einer
multikulturellen Gesellschaft
Durch die Zuwanderung in die Bundesrepublik seit den 60'iger
Jahren ist die Gesellschaft multikulturell geprägt. Diese
anderen und oftmals fremden Kulturen bringen ihre Kulturstandards
in das gesellschaftliche Leben mit ein. Die Migrationssituation
bringt mit sich, daß Menschen in der Fremde bei Krisen-
und Konfliktsituationen auf bewährte Bewältigungsmechanismen
zurückgreifen. Oft werden heimatkulturell orientierte
Strategien zur Lebensbewältigung in der Migration noch
stärker vertreten, da das Leben in einer anderen Kultur
mit Verunsicherung und Ängsten, fehler zu machen, einhergeht.
In der Migrationsituation haben diese Handlungskompetenzen
keine Gültigkeit bzw. nach ihrer Anwendung stellt sich
der Erfolg nicht wie beabsichtigt her. Ihre Erfahrung zeigt,
daß sie mit ihren Konfliktlösestrategien nicht
weiterkommen. Wesentliche Grundstrukturen für das Leben,
die erworben wurden, müssen relativiert werden, da die
'Schlüssel nicht mehr in die Schlösser passen'.
Moderne Problemlöseansätze stellen
die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit Selbständigkeit,
Unabhängigkeit und Entscheidungskraft in den Vordergrund.
Gerade diese Ziele sind es, die von den Vorstellungen über
das Lebenskonzept orientalischer Kulturen abweichen. Es sollen
Kompetenzen gefördert werden, die nach den Vorstellungen
über das Zusammenleben, gerade nicht förderlich
sind. So steht der Stärkung der Eigenverantwortlichkeit
die Achtung vor den Älteren und die Unterordnung an ihre
Anweisungen, der Selbstständigkeit die Akzeptanz der
Autorität und der Unabhängigkeit, die einzuhaltende
Rangordnung, entgegen.
Für Dimensionen der Multikulturalität
einer Gesellschaft bedeutet dies, daß das Zusammenleben
von Menschen verschiedenster Herkunft eine Herausforderung
zur Reflexion von Kulturstandards bzw. einer Überprüfung
auf Gültigkeit in verschiedenen Kontexten bedarf. Dies
geht mit einer Bereitschaft einher, von der statitischen Unveränderbarkeit
von Kulturstandards abzurücken. Es muß ein Verständnis
für den dynamischen Prozeß gesellschaftlichen Zusammenlebens
gefördert werden. Um ein Zusammenwachsen der Kulturen
zu fördern, ist es Notwendig, gemeinsam und mit Neugier
die Konzeptionen des Zusammenlebens transkulturell zu betrachten,
um Veränderungsprozesse und damit kulturellen Austausch
und Transformation zu ermöglichen. Transkulturalität
bedeutet, über den kulturellen Austausch gemeinsam eine
neue, andere Sichtweise zu ermöglichen und damit einen
gemeinsamen Veränderungsprozess zu beginnen. Das Zusammentreffen
der Kulturen sollte als ein dialogisch zu konstruierendes
Produkt, das erst durch den Kontakt der "beiden Kulturen"
zustandekommt, verstanden werden. Dabei können sowohl
neue "dritte Lösungen" ("Synergie")
als auch eine Verständigung über Gemeinsamkeiten
und vorhandene (vgl. Krewer 1996). Überschneidungsbereiche
aus der Sicht der beteiligten Kulturen erzielt werden
Dies gelingt jedoch nur, wenn einer fremden Kultur mit Wertschätzung
begegnet wird und in der Kontaktsituation gegenseitige Bereitschaft
und Aufrichtigkeit besteht, neue Wege kultureller Erfahrungen
zu gehen.
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