Einleitung
Unter Migration wird die Wanderung eines Menschen verstanden.
Vollzieht sie sich innerhalb der Grenzen eines Landes, so
wird von Binnenmigration gesprochen. Daneben kann zwischen
freiwilliger und unfreiwilliger Wanderung in ein anderes Land
unterschieden werden. Unter dem Begriff 'Migrant' werden alle
Menschen subsumiert, die in ihrer Biographie eine Migration
aufweisen. Die größten Migrantengruppen in der
Bundesrepublik Deutschland stellen die Arbeitsmigranten, die
Aussiedler und die Flüchtlinge dar. Die Elterngeneration
wird als 'erste Einwanderungsgeneration' (sog. erste Generation)
bezeichnet. Die Migrationsbiographien der ersten Arbeitsmigranten
in den 60er Jahren sind davon gekennzeichnet, daß vorwiegend
entweder verheiratete Männer oder unverheiratete Frauen
die Wanderung angetreten sind. Bei Aussiedlerfamilien sind
Übersiedlungen der gesamten Familie häufig anzutreffen,
wenn auch meist mit zeitlichen Verzögerungen einzelner
Familienmitglieder. Flüchtlinge leben, den Umständen
entsprechend, in allen möglichen familiären Konstellationen.
Dementsprechend finden sich bei 'Migrantenkindern' unterschiedlichste
Migrationsbiographien vor.
Einige Fragen können darüber Aufschluß geben:
Sind alle gemeinsam emigriert?
Unter welchen Umständen fand die Migration statt (wirtschaftliche,
politische, familiäre)?
Welches Familienmitglied emigrierte als erstes, welches Kind
ist zuerst mitgereist, welche sind wann und warum nachgeholt
worden.?
Wer traf die Entscheidungen dazu?
Wie lebten oder leben die in der Heimat verbliebenen Familienmitglieder?
Wie stehen die Großeltern zu diesen Entscheidungen?
Sind in Deutschland Geschwister geboren, die sie erst hier
kennengelernt haben?
Ist jemand remigriert oder für eine Zeitspanne wieder
zurück in die Herkunftsgesellschaft gegangen?
Wer kann am besten Deutsch in der Familie und welche Aufgaben
hat diese Person übernommen?
Die sogenannte "zweite Generation" der Arbeitsmigranten
läßt sich in drei Hauptgruppen unterteilen. Die
erste bilden diejenigen, die als Jugendliche einreisten, die
zweite kamen im (frühen) Kindesalter. Beide Gruppen sind
im Rahmen der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik
Deutschland geholt worden. Die dritte Gruppe bilden die Kinder
und Jugendlichen, die hier geboren wurden. Durch die Staatsangehörigkeitsregelung
stellt diese Gruppe ebenfalls eine Migrantengruppe dar.
Viele Migranten leben schon über Jahrzehnte in der Bundesrepublik
Deutschland. Für sie ist die Bundesrepublik ihr Einwanderungsland.
Sie sind ein Teil dieser Gesellschaft geworden. Die Bezeichnung
"erste (bzw. zweite oder dritte) Generation" dient
m.E. zur Abgrenzung innerhalb der Gesellschaft, da sich die
Bundesrepublik Deutschland obwohl sie sich faktisch zu einem
Einwanderungsland entwickelt hat, sich nicht als solches begreift.
Vor allem für die Jugendlichen ist die Bundesrepublik
Deutschland zumindest eine weitere Heimat. Sie gehören
zum Gesellschaftsbild dieses Landes.
Die nächste größere Gruppe stellen die Kinder
und Jugendlichen der Aussiedler dar. Sie unterscheiden sich,
neben ihrer Migrationsbiographie, vor allem durch ihre Staatsangehörigkeit.
Daneben gibt es Jugendliche, die sich als Flüchtlinge
in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Hier ist im besonderen
auf die unbegleiteten Flüchtlingskinder hinzuweisen.
Zur Situation von Migrantenkindern
Die wissenschaftliche Literatur zu diesem Themenbereich ist
durchsetzt mit Schlagwörtern, wie "Probleme",
"Defizite" und "Krisen". Mit diesen Begriffen
wird häufig die Lebenssituation der Migrantenjugendlichen
in sämtlichen Lebensbereichen, wie Schule, Beruf, Sprache
usw. beschrieben. Dabei wird besonders auf die kulturellen
Orientierungsschwierigkeiten und die damit verbundenen Folgewirkungen
für die Identität der Betroffenen hingewiesen. Der
Schritt zur echten Identitätskrise einhergehend mit massiven
psychischen Problemen ist von dieser Darstellung nicht weit
entfernt. Dies kann exemplarisch an den Ausführungen
von Müller (1981) in "Türkische Kinder in Deutschland"
verdeutlichen werden:
"Das Spannungsfeld soziokultureller türkischer und
deutscher Kindheitsmuster läßt sich nicht einfach
aufheben und verdrängen. Für die türkischen
Kinder gibt es keine `einfache´ türkische oder
deutsche Kindheit, sondern die komplexe Kindheit türkischer
Arbeiterkinder in der Bundesrepublik. Diese `dritte´
Kindheit ist keine folgenlose Randepisode der Lebensgeschichte,
sondern sie entscheidet über die Entwicklung und Zerstörung
von Personalität, sie entscheidet über die Energie
die Identität zu bilden und durchzuhalten gegenüber
dem gesellschaftlichen Außen (...) Die unterschiedlichen
Bedingungen in Familie und Schule ergeben für die türkischen
Kinder ein uneinheitliches und widersprüchliches Orientierungsfeld
mit negativen Auswirkungen für die Persönlichkeitsentwicklung.
Sie werden zu Außenseitern in zwei Kulturen".
Die Kinder sind zwei "kollidierenden" Sozialisationskräften
ausgesetzt, infolgedessen sind sie in Gefahr, zwischen zwei
Stühle zu fallen. Dies ist verschiedentlich beschrieben
worden als "zwischen zwei Kultur-Vorbilder geworfen"
(Listwan 1960), als ein Sein "in einem Vakuum zwischen
zwei Kulturen" (Harris 1962) oder als "zerrissen
zwischen zwei Kulturen" (Jupp 1966, in Cropley 1979).
Solche Vorstellungen durchziehen die Literatur und machen
deutlich, daß - auch wenn sich die Kinder und Jugendlichen
um eine Integration der kulturellen Unterschiede bemühen
- sie durch solche stigmatisierenden und sich auf "empirische
Forschung" beziehenden Aussagen keine Möglichkeiten
erhalten, einen integrativen Ansatz in ihrem Leben umzusetzen,
weil der alltägliche Umgang mit ihnen durch das Stigma
"Problemkinder" bestimmt ist.
Bender-Szymanski und Hesse (1987) haben eine kritische Analyse
der deutschsprachigen empirischen Untersuchungen in der Migrationsforschung
aus psychologischer Sicht vorgelegt. Sie zeigen auf, daß
die von den Forschern vollzogenen Schlüsse bezüglich
der Situation von Migranten, zu vorschnell getroffen werden,
nicht haltbar und völlig unter dem Niveau psychologischer
Forschung sind.
Von statischen Identitätsvorstellungen wie "Das
türkische Kind muß dauernd zwischen Familie und
Schule seine Identität wechseln", die von Müller
(1981) verwendet, ist deshalb Abstand zu nehmen:
Es liegt ihnen ein wenig reflektierter "Identitätsbegriff"
zugrunde und beinhaltet den Trugschluß, daß Migrantenkinder
ihre Identität "suchen" und "finden"
können und sie nur noch in die Identität hineinzuschlüpfen
brauchen, um ihren jeweiligen Platz in der Gesellschaft zu
bestimmen.
Diese Auffassungen von "Identität " sind von
der "Kulturkonfliktthese" beeinflußt bzw.
haben ihren Ursprung darin.
Die Kulturkonfliktthese geht davon aus, daß Norm- und
Wertdiskrepanzen zwischen Herkunftsland und Aufnahmegesellschaft
zu Orientierungsschwierigkeiten und Verhaltensunsicherheiten
führen, die sich langfristig nachhaltig auf die Persönlichkeit
("Identität") bzw. Handlungsfähigkeit
der Betroffenen auswirken. Verfechter der Kulturkonfliktthese
behaupten, daß ausländerspezifische Kulturkonflikte
existieren, und sie schließen daraus, daß solche
Konflikte einer "Integration" in die Aufnahmegesellschaft
im Wege stehen (vgl. Twenhöfer 1984).
Wilpert (1980) hingegen, die zu den Kritikern der These gehört
meint, die Kulturkonfliktthese
"sei Ausdruck lediglich ideologischen Bewußtseins,
ein "Kulturmystizismus", der als Rationalisierung
dient, um Minderheitenprobleme auf die negativen Einflüsse
von Herkunft, Familie und Kultur schieben zu können".
(Zur vertiefenden Auseinandersetzung und Kritik an der Kulturkonfliktthese
siehe Twenhöfer 1984).
Migrantenkinder werden als "hilfsbedürftige Problemkinder"
angesehen. Sie werden damit (im Sinne der Kulturkonfliktthese)
auf eine ausweglose Lebenssituation festgeschrieben, aus der
es kein Entrinnen gibt oder doch zumindest eine "beschädigte
Identität" hervorgeht. Ihnen wird ein Selbstbewußtsein
und ein dementsprechendes Handeln in ihrer Situation abgesprochen.
Zum Selbstverständnis von Migrantenkindern
Familiäre Lebenswelten und Konfliktfelder
Im Familienleben unterliegen jugendliche Migranten in
der Regel rigideren familiären Regelwerken von Normen
und Werten als ihre deutschen Altersgenossen. Diese, für
Außenstehende häufig sehr restriktiv erscheinenden
Regeln, sind jedoch sehr unterschiedlich und abhängig
von Herkunftsregion, Bildungsstand, Migrationszeit bzw. -dauer,
Alter der Eltern bei der Migration, Migrationsalter der Jugendlichen
bzw. Geburtsland, verwandtschaftlichen Bindungen und Subkulturen
in der Migration.
Für das Verhalten in der Familie gilt häufig; daß
bei Menschen, die aus ländlichen Regionen kommen, der
einzelne nicht die alles entscheidende Bedeutung einnimmt.
Individualität steht nicht im Mittelpunkt, sondern das
Familiensystem als Gesamtes steht im Vordergrund. Dies prägt
die Verhaltensmuster der Jugendlichen dahingehend, daß
sie sich unterordnen und versprechen den Ermahnungen der Älteren
(zumeist des Vaters) folge zu leisten, das heißt auch
die Rollenverteilung und die bestehenden Autoritäten
anzuerkennen.
Rebellion jugendlicher Migranten in der Familie bedeutet
gleichzeitig eine Gefahr für das Familiensystem, was
manifeste Konsequenzen nach sich zieht. Häufig drohen
Eltern nach anfänglichen Ermahnungen, den Jugendlichen
an, sie in das Heimatland zurückzuschicken oder in der
Heimat zu verheiraten; in einigen Fällen treten diese
Folgen auch real ein. Die Eltern wollen mit dieser Androhung,
das Verantwortungsgefühl stärken und Verbindlichkeiten
erreichen. In letzter Konsequenz drohe der Verlust der Familie,
d.h. jemand kann verstoßen werden. In bestimmten Zusammenhängen
verlangt ein organisches Lebensgefüge bzw. Familiengefüge
derart harte Konsequenzen, denn die Interessen des Familiensystems
sind wichtiger, als die des einzelnen Individuums. Das Handeln
des Einzelnen hat in letzter Konsequenz einen Gesellschaftsbezug
und dies führt häufig zu Konflikten auch im Verhältnis
zur hiesigen Gesellschaft:
Gesellschaftliche Konfliktfelder
Nicht selten wenden sich jugendliche Migranten gerade mit
Problemen dieser Struktur an Berater, Lehrer etc. "Hier
stellen sie ihre westlichen Anteile und Sichtweisen verstärkt
dar und rebellieren in einem geschützten Raum gegen die
persönlichen Einschränkungen, die sie in der häuslichen
Kultur erfahren. Diese decken sich mit den Erfahrungen und
Vorstellungen der Fachkräfte, so daß eine gute
Kommunikation entsteht. Eine Situation, die sich als "Einverständnis
im Mißverständnis" (Salman) beschreiben ließe.
Die eine Seite ist kompetent, die andere fühlt sich vorerst
verstanden.
Es ist davon auszugehen, daß die oben beschriebenen
Konflikte der jugendlichen Migranten mit ihren Eltern, in
erster Linie Generationskonflikte sind und wenn überhaupt
erst in zweiter Linie "Kulturkonflikte". Sie entstehen
in einer entwicklungspsychologisch sehr schwierigen Phase.
Der Stellenwert der Pubertät wird in solchen Zusammenhängen
von vielen Pädagogen und Beratern oftmals stark unterschätzt
und genauso häufig wird der Stellenwert der "Kultur"
überschätzt. Die Jugendlichen befinden sich in einer
Phase der Orientierung und in einem Ablösungsprozeß
von der Familie. Dabei wird der sozialisationstheoretisch
von der Struktur her notwendig nachgewiesene Ablösungsprozeß
und der Attraktivitätsverlust der Familie durch die Übernahme
kultureller Orientierungen des sogenannten Gastlandes kompensiert.
Dabei werden vom Gastland geprägte Argumentationsstrategien
gegen die eigenen Eltern angebracht (vgl.Hamburger u.a.1981).
Bikulturelle Kinder sind in zwei Kulturen sozialisiert, sie
verfügen über die Kompetenz, Lebensrealitäten
aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. In der Sozialisation
und damit auch in dem Erwerb von kulturellen Kompetenzen geht
es nicht um richtig oder falsch, sondern um Norm- und Wertvorstellungen,
die in der Entwicklung "mitgegeben" werden.
Bikulturalität kann nicht getrennt betrachtet werden,
sondern im Laufe der persönlichen Entwicklung finden
Synthesen aus den beiden Kulturen statt, d.h. es besteht neben
der Kultur (K1 ) und der Kultur (K2) eine Kultur (Kx)
Die Verschiebung der Konfliktebenen
Migrantenkinder befinden sich in einem dynamischen Prozeß
der ständigen Neukonstruktion und Integration ihrer Lebenswelt
(Kultur (Kx)). Ihre belastende Situation entsteht dadurch,
daß sie weder in ihrem familiären Umfeld ihre (neue)
Kultur und damit auch ihre Vorstellungen über sich Selbst
(Selbstkonzept) leben können, da die Elterngeneration
Angst hat vor einer Veränderung, die den Verlust der
heimatkulturellen Orientierung bedeuten könnte; noch
in außerfamilären Zusammenhängen wie Schule,
Freitzeitgestaltung, Beruf u.ä., in denen von ihnen ein
einseitiger Veränderungsprozeß gefordert wird.
So besteht der Konflikt der Migrantenkinder darin, daß
sie nicht die Möglichkeit erhalten und auch nicht über
Mittel verfügen, ihre Ressourcen der Synthese beider
Lebenswelten zu gestalten.
Probleme der Migrantenkinder resultieren aus den Konflikten
des Umfeldes
Hier stellt sich die Frage, warum eine Vielfalt von Erfahrungen
lediglich als Defizit betrachtet wird und nicht einfach als
eine Bereicherung angesehen werden kann.
Konsequenzen für den professionellen Umgang mit jugendlichen
Migranten
Im Umgang mit jugendlichen Migranten und ihren Problemen ist
eine interkulturelle Neutralität in Beratung und Therapie
sehr wichtig. Aus der 'Interkulturellen Psychologie' ist bekannt,
daß Voreinstellung vor der Kontaktaufnahme wesentlich
Einfluß darauf haben, welche Form von interkultureller
Übereinkunft angestrebt wird und damit auch, was als
Problem oder Konflikt bei der Umsetzung einer Zielvorstellung
wahrgenommen wird.
Die Jugendlichen sind im Umgang mit ihren verschiedenen kulturellen
Lebenswelten kompetent, sie sind Experten ihrer eigenen Situation.
Kinder erwerben eine interaktionale Kompetenz, die auch als
solche geschätzt werden sollte. Darunter ist die Fähigkeit
zu verstehen "einer Person, in Interaktionssituationen
verbale und nonverbale Handlungen in zwei Rollen - in der
des Senders und der des Empfängers - zu vollziehen, gemäß
den soziokulturellen und sozialpsychologischen Regeln der
Gruppe" (Oksaar 1980:47).
Diese interaktionale Kompetenz hat eine immanente Bedeutung
in der praktischen Arbeit mit Migrantenkindern. Die Fähigkeit
entsprechend den sozialpsychologischen Regeln einer Gruppen
handeln zu können, befähigt sie unterschiedliche
Verhaltensrepertoires abzurufen ohne damit in Konflikt zu
geraten, da sie entsprechend des Kontextes über adäquate
Verhaltensstandarts verfügen. Im Sinne der Konfliktbewältigung
verfügen sie über alternative Strategien, die in
Abhängigkeit des Umfeldes Gültigkeit haben.
Wichtig ist, daß beide Alternativen für die Jugendlichen
entsprechende Wertigkeit und Wichtigkeit besitzen. In der
beraterisch-pädagogischen Arbeit mit Migranten geht es
also nicht darum ein entweder/oder - Konzept bzgl. der Kulturen
und der Identität herauszuarbeiten, sondern um den gemeinsamen
und schwierigen Weg zu gehen, sich auf die Suche der Synergieeffekte
beider kultureller Ressourcen begeben.
Pädagogische Arbeit mit Migrantenkindern sollte ihren
Blick verstärkt auf Möglichkeiten, Chancen und neue
Wege richten und sich bemühen, den Mythos des defizitären
Aufwachsens zwischen den Kulturen, aufzubrechen.
Soner Tuna ;Dipl. Psych., Psychotherapeut
(Kinder und Jugendliche), Mitarbeiter des Ethno-Medizinischen
Zentrums Hannover, Schwerpunkte: Ethnopsychologie/psychotherapie,
Fort- und Weiterbildung, Suchtprävention, Sprache und
Kultur, Interkulturelle Kommunikation in Beratung und Therapie.
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