Das Leben von Mädchen und Frauen türkischer
Herkunft in Deutschland gestaltet sich sehr Facettenreich.
Die Migrationsbiographie, die Aufenthaltsdauer, die Herkunftsregion
sowie die familiäre Dynamik haben üben einen Einfluß
auf die Gestaltung der Lebenswelten, in denen sie sich in
ihrer Alltagsrealität bewegen.
Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten lassen sich zwar finden,
aber der Transfer in die eigenen Biographie gelingt sehr selten,
da es sich letztlich um Verallgemeinerungen handelt. Darüber
ist in vielfacher weise in unterschiedlichen Veröffentlichungen
zur "Situation ausländischer Mädchen und Frauen"
berichtet worden. In wenigen Berichten finden sich die Betroffenen
wieder, da die Artikel zumeist die eine Seite bzw. die andere
Seite der Lebensrealität fokussieren.
Ich möchte hier die Gelegenheit nutzen, eine Frau zu
Wort kommen zu lassen, die über Ihre Lebenswelten, wie
sie sich für sie darstellen, zu berichten. Unkommentiert
möchte ich Ihnen einen Einblick in eine Migrationsbiographie
geben, die Beweggründe für Migration, die Entwicklungs-
und Veränderungsphasen darin und den Einfluß kultureller
Dynamiken sehr deutlich macht.
"Ich bin 1967 in Ankara geboren. Wir sind fünf
Geschwister, drei Mädchen und zwei Jungen. Ich bin das
jüngste Mädchen und habe noch einen jüngeren
Bruder. Als ich noch sehr klein war ging mein Vater als Tourist
nach Deutschland und ist aus verschiedenen Gründen, die
mir nicht bekannt sind, in Deutschland geblieben. Während
der Zeit in Deutschland soll er eine deutsche Freundin gehabt
haben. Als meine Mutter erfuhr, daß er mit einer deutschen
Freundin zusammenlebt, ist sie aus der Angst meinen Vater
verlieren zu können, ebenfalls nach Deutschland gekommen.
Später hat meine Mutter meinen Bruder und meine älteste
Schwester zu sich nach Deutschland geholt. Wir, die anderen
drei Geschwister, haben in der Türkei gelebt. Nach einiger
Zeit, als meine Eltern wiederkamen, das muß nach ein
paar Jahren gewesen sein, haben sie meine älteste Schwester
verheiratet, und wir drei Geschwister wohnten dann bei ihr.
Meine Mutter hat meinen Bruder wieder mit nach Deutschland
genommen.
Wir haben dann ein paar Jahre bei meiner Schwester gelebt.
Wegen der politischen Situation in der Türkei wollte
unsere Mutter uns und das Kind nach Deutschland holen. So
sind wir, die drei Geschwister, auch nach Deutschland gekommen.
Mein Bruder wurde wegen politischer Tätigkeit zu jener
Zeit sowieso in der Türkei gesucht und auch deshalb wollte
uns unsere Mutter auf keinen Fall wieder in die Türkei
zurückschicken. Ein Jahr vor Erlangung ihres Diploms
schaffte es meine Schwester, nach heftigen Auseinandersetzungen
dann doch, daß sie wieder in die Türkei zurückkehren
konnte. Ich hatte nie gedacht hier in Deutschland bleiben
zu wollen, aber meine Mutter hätte es nie erlaubt, daß
zwei Kinder auf Mal zurückkehren. Für meine Schwester
aber war es einfacher die Erlaubnis zu erhalten, da sie zur
Erlangung ihres Diploms die Erlaubnis erhalten hatte in die
Türkei zu gehen. Hätten sie die Entscheidung mir
überlassen, so wäre ich sicherlich nicht in Deutschland
geblieben.
Ich habe dann hier später mit der Schule begonnen. Ich
mußte zuerst Deutsch lernen und ich nahm an Sprachkursen
teil, die für Schüler aus der Türkei angeboten
wurden. Dann fing ich in der 7. Klasse der Hauptschule an.
Da ich in der Türkei aber eine sehr erfolgreiche Schülerin
war, wollte ich auf keinen Fall auf der Hauptschule verbleiben,
sondern mein Ziel war es auf ein Gymnasium zu gehen. Sie wollten
mich auf dem Gymnasium nicht aufnehmen, da Englisch als erste
Fremdsprache Pflicht war und es hier seit der 5. Klasse unterrichtet
wurde, war ich sehr hinter dem Wissensstand. Später fand
ich heraus, daß es in B. ein einziges Gymnasium gab,
welche Französisch als erste Fremdsprache hatte und ab
der 7. Klasse erst angeboten wurde. Ich ging dann auf dieses
Gymnasium. Ich hatte in der Schule sehr große Schwierigkeiten,
deshalb wechselte ich abermals die Schule. Nach dem ich dann
auf sieben verschieden Schulen war, ging ich in B. auf eine
Gesamtschule.
In der Schule war ich eine sehr erfolgreiche Schülerin.
Aber die Situation zu Hause bereitete mir große Schwierigkeiten.
Es gab große Probleme mit meinen jüngeren Bruder.
Ich hatte keine Schwierigkeiten mit den Lerninhalten, da es
aber zu Hause große Probleme gab, hatte ich sehr viele
Fehlzeiten. Mein Bruder besuchte damals die 4. Klasse der
Grundschule. Er wurde sehr oft von der Polizei nach Hause
gebracht, da er beim Knacken von Automaten erwischt worden
war. Dies hat in unserer Familie zu großen Zerrüttungen
geführt, denn meine Mutter konnte es in keinster Weise
dulden oder ertragen, daß eines ihrer Kinder stehlen
oder etwas anderes Schlechtes taten. Dies machte sie so sehr
traurig und betroffen,, daß sie krank und bettlägerig
wurde. Deshalb war die Atmosphäre zu Hause sehr betrübt.
Die schwierige Situation mit meinem Bruder zog sich eine sehr
lange Zeit hin und ging von Automatenknacken über Einbruchsdelikte
bis hin zu bewaffnetem Raub.
Diese Dinge fingen etwa nach einer Woche nach dem ich in Deutschland
war an. Sie dauerten sehr lange, etwa sechs bis sieben Jahre.
Diese Zeit hat unser Familienleben sehr bestimmt und belastet.
In dieser Zeit waren für mich das Wichtigste die Schule
und die Probleme, die mein jüngerer Bruder bereitete.
Ich konnte an nichts anderes Denken. Mit Freunden und Freundinnen
ausgehen oder irgendwo einen Kaffee trinken fiel mir gar nicht
ein. Denn die Situation zu Hause war so, als sei ein Todesfall
in der Familie. Meine Mutter war ständig krank und im
Bett, mein älterer Bruder ständig außer Haus,
mein Vater ging nach der Arbeit ins Bett oder ging ins türkische
Café und trank. Ich blieb mit meiner Mutter allein
zu Hause. Sie war im Bett und wollte nicht essen, trinken
oder sprechen.
Die Situation mit meinem Bruder spitzte sich zu nach dem er
15 wurde. Er wurde jetzt nach dem Jugendrecht bestraft und
mußte immer wieder in soziale Arbeit leisten oder wurde
zehn Tage in Jugendarrest genommen und ähnliches. In
dieser Zeit mußte ich immer die Probleme mit der Polizei,
den Gerichten oder Anwälten lösen bzw. besprechen,
da meine Eltern nicht über entsprechenden sprachliche
Kenntnisse verfügten und ich die einzige im Haushalt
war, die der deutschen Sprache mächtig war. Wenn die
Polizei meinen Bruder erwischt hatte und auf die Wache brachte,
egal zu welcher Nachtzeit, es war meine Aufgabe dorthin zu
gehen und ihn dort wieder abzuholen.
Obwohl er noch nicht 18 war, wurde er nach dem bewaffneten
Raub zu zwei Jahren Haft verurteilt. Auch in dieser Zeit war
ich für die Besorgung von Besuchserlaubnisse vom Richter
und für die Besuche im Gefängnis zuständig.
In dieser Zeit mein Bruder 17 und ich 18 Jahre alt. Es war
die Zeit des Gymnasiumabschlußes. Obwohl es nur noch
wenige Monate bis zum Abschluß des Gymnasiums waren,
beschloß ich die Schule zu verlassen. Ich konnte es
auch nicht mehr ertragen so einen Bruder zu haben, ihn im
Gefängnis zu wissen, die Besuchererlaubnisse zu besorgen.
Die ganzen Gespräche mit seinen Therapeuten bis hin zu
den Wärtern konnte ich nicht mehr aushalten. Alle diese
Aufgaben lasteten auf mir und mein einziger Wunsch war es,
daß mein Bruder ein geordnetes Leben führen sollte.
Aber die Situation verschlimmerte sich zusehends. Auch in
der Anstalt fingen die Probleme an und die Therapeuten und
Aufsehen fingen an zu Hause anzurufen und berichteten, daß
mein Bruder versucht hätte sich das Leben zu nehmen.
Diese Dinge warfen mich damals so sehr aus der Bahn, daß
ich nicht die Fähigkeit hatte an mich zu denken. Ich
fand nichts, worüber ich nachdenken konnte, sondern dachte
beständig nur an die Situation meines Bruders. Dreh-
und Angelpunkt meines Lebens war mein Bruder, seine Situation,
seine Zukunft.
In der Zeit des Gefängnisaufenthaltes meines Bruder war
es auch so, daß er nicht bereit war Besuch zu empfangen.
Er beschimpfte mich, verweigerte eine Unterhaltung und schmiß
mich so zusagen raus.
Ich fühlte mich zu jener Zeit miserabel und beschloß
mit der Schule aufzuhören. Meine Absicht war es nicht
zu Hause zu bleiben, sondern ich wollte von all diesen Belastungen
fern sein. Ich beschloß die Schule in Deutschland aufzuhören
und in der Türkei fortzusetzen. Denn ich hatte in Deutschland
von keiner Seite eine Unterstützung und mir ging es wirklich
schlecht. Ich beschloß dann zu meiner älteren Schwester
in die Türkei zu gehen.
Meiner Familie gegenüber konnte ich nicht den wahren
Grund für diese Entscheidung mitteilen. Sie hätte
es auch nicht verstanden bzw. Verständnis dafür
gehabt, wenn ich ihnen erzählt hätte, daß
die Situation mit meinem Bruder mich so sehr belastet, daß
ich es nicht mehr aushalten kann.
In der ganzen Zeit der Inhaftierung wurde bei uns in der Familie
kein einziges Mal gemeinsam gegessen. Es kam nicht vor, daß
das Frühstück, Mittag- oder Abendessen gedeckt wurde
und wir gemeinsam aßen. Zu Hause sprach niemand miteinander.
Dies änderte sich nur, wenn wir Besuch hatten, denn niemand,
nicht einmal die engsten Verwandten, wußten über
den Verbleib und Aufenthaltsort meines Bruders Bescheid. Es
wurde vor allen Geheim gehalten.
Mittlerweile besuchte ich die Schule nicht mehr, denn die
Probleme zu Hause ermöglichten mir dies nicht. Meine
Familie hatte sich nicht um meine Schule gekümmert, wahrscheinlich
weil sie sich auf mich verlassen konnten und mir sehr vertrauten.
Sie fragten niemals nach der Schule, in welche Klasse ich
gehe oder was ich da so mache. Auch mein Zeugnis unterschrieb
ich immer selber und brachte es in die Schule zurück.
So hatten sie auch nie ein Zeugnis von mir gesehen.
Daraufhin ging ich in die Türkei und dort nahmen sie
mich natürlich nicht in die letzte Klasse des Gymnasiums
auf. Sie stuften mich für die erste Klasse des Gymnasiums
ein. Nach dem ich dem widersprochen hatte mußte ich
einen Einstufungstest machen. Nach dem Test wurde entschieden,
daß ich die zweite Klasse des Gymnasium besuchen könne.
Ich setze mich dann mit dem Schulaufsichtsamt und Lehrers
zusammen und berichtet, daß ich gekommen sei um die
dritte und letzte Klasse des Gymnasium zu besuchen. Falls
sie mich nicht aufnehmen würden, würde ich wieder
nach Deutschland fahren, sagte ich ihnen. Ich bat dann darum
mich ein halbes Jahr auf Probe in die letzte Klasse aufzunehmen
und die Entscheidung dann den Lehrern und mir zu überlassen.
Weil ich in diesem Halbjahr erfolgreich war, erlaubten sie
mir dann die Beendigung der Klasse. Während ich auf dem
Gymnasium war, besuchte ich gleichzeitig auch die Vorbereitungskurse
für die Aufnahmeklausur an die Universität. Ich
bestand dann daraufhin den Zweig für Publizistik an der
Universität Marmara.
Es war auch die Zeit, in der mein Bruder aus der Haft entlassen
wurde und deshalb wollte ich nicht mehr in der Türkei
verbleiben. Ich beschloß dann wieder nach Deutschland
zu kommen, da ich befürchtete, daß das kriminelle
Verhalten meines Bruders sich fortsetzen könnte. Ein
zweiter Grund war, daß wenn ich in der Türkei verblieben
wäre, ich finanziell von meiner Familie bzw. meinem Onkel
abhängig geblieben wäre. Seit etwa meinem 14. oder
15. Lebensjahr an hatte ich kein Geld mehr von meinen Eltern
angenommen, sondern verdiente mir mein Taschengeld durch Putzen
und dergleichen. Ich bezahlte meine Auslagen für die
Schule, Bücher etc. immer selber.
Aus diesen Gründen wollte ich nicht mehr in der Türkei
verbleiben und kehrte nach Deutschland zurück.
Es war kurz vor der Zeit, als mein Bruder aus der Haft entlassen
wurde. Die Aufgabe ihn von dort zu holen, war natürlich
wieder die meinige. Während meines Aufenthaltes in der
Türkei hatten meine Eltern ihn nur einmal besucht. Um
eine Besuchserlaubnis zu erhalten mußten sie mit dem
Richter sprechen und ein Formular ausfüllen. Wegen dem
Sprachmangel konnten sie dies nicht bewerkstelligen. Oder
mein Bruder hätte ein Antrag auf Besuch stellen müssen.
Da er dies aber nicht tat, mußte immer ein besonderes
Verfahren eingehalten werden. Wegen der Heirat meines älteren
Bruders, der daraufhin umzog, konnten meine Eltern es nicht
leisten selbständig eine Besucherlaubnis zu beantragen.
Das einmal als sie ihn besucht hatten, hatte ich auch der
Türkei mit der Staatsanwaltschaft brieflich Kontakt und
dadurch hatte ich eine Besuchserlaubnis für meine Eltern
erwirkt.
Wegen den Vorfällen, war er mittlerweile in einer psychiatrischen
Abteilung und sollte von dort entlassen werden. Man teilte
mir mit, daß er nach der Entlassung in die Türkei
abgeschoben werden würde. Auch in einem Gespräch
mit ihm teilte er mir mit, daß er dies auch gerne wollte.
Dieser Tatbestand erleichterte mich sehr, denn ich war hier
ganz alleine, der sich um ihn kümmern konnte. In der
Türkei waren zwei Schwestern, die sich um ihn kümmern
konnten.
Ich beschloß dann hier auf die Universität zu gehen.
Während der Zeit, als ich auf die Immatrikulation wartete,
arbeitete ich in einem Krankenhaus.
Ich bewarb mich überall, auch in B.. Es keinen besonderen
Wunsch auf eine bestimmte Stadt oder den Gedanken aus B. wegzugehen.
Weil ich in der Türkei die Fachrichtung Publizistik studieren
konnte, durfte ich auch hier nur Publizistik studieren. In
B. war der NC für Publizistik damals sehr hoch und in
die Ausländerquote kam ich auch nicht.
Ich ging dann daraufhin wieder in die Türkei. Im nächsten
Semester konnte ich in G. anfangen Publizistik zu studieren.
Ich hatte auch keine Wahlmöglichkeit und deshalb war
ich gezwungen nach G. zu kommen.
Die Entscheidung nach G. zu gehen konnte ich nur schwer in
der Familie durchsetzen. Sie fragten mich warum ich nicht
in B. studieren könne und ich könne doch noch ein
Jahr warten und mich wieder in B. bewerben.
Mein Cousin hatte damals einen wichtige Rolle. Er studierte
und genoß in der Familie ein Ansehen. Deshalb wurde
auf ihn gehört. Ich von meiner Seite hätte meiner
Familie gegenüber keine Forderungen gestellt bzw. hätte
keine Stellen können. Mit seiner Hilfe willigten sie
ein, daß ich nach G. zu studieren gehen konnte. Für
sie war es sowieso nur eine vorübergehende Entscheidung,
bis in B. ein Studienplatz frei geworden ist. Dann sollte
ich wieder zurückkommen.
Obwohl ich einen Kampf geführt habe, ist dieser doch
nicht mit anderen Familien mit türkischer Herkunft zu
vergleichen, denn sie immer wollten, daß wir studieren.
In der Anfangszeit in G. fing ich das erste Mal an, an über
mich und an mich zu denken. Ich war in eine sehr ungewohnten
Lebenssituation - ein Wohnung zu finden, alleine zu leben.
Dies waren ganz neue Lebensgefühle, die ich vorher nicht
kannte.
Ich war bis zu dieser Zeit, außer den Schulzeiten oder
wegen einer Freundin oder Geburtstagsfeier, etwa eine halbe
Stunde, nie länger von zu Hause weg. Das Alleinsein und
das Alleinwohnen in G. ängstigte mich sehr, denn es war
ein ungekanntes Gefühl.
Denn diese Einsamkeit und der Beginn eines neuen Lebens hatte,
war etwas, daß ich nur für mich getan hatte. Es
war keine Flucht vor irgend etwas. Es war lediglich nur, weil
ich es selber wollte oder weil ich studieren wollte - etwas
was mir Eigen ist. Die Schule zu wechseln und in die Türkei
zu fahren war eine Flucht aus B., eine Flucht von den Schwierigkeiten.
Aber zu studieren war etwas selbstverständliches für
mich. Seit meiner Kindheit träumte ich von einem Universitätsbesuch.
Ein andere Frage, als zu studieren, stellte sich mir gar nicht.
Aus diesem Grunde, war es für mich etwas besonderes.
Es war das erste Mal, daß ich etwas wegen mir und für
mich tat. Ich wollte eine Wohnung mieten und es war für
mich, meine Wohnung. Ich wollte es für mich einrichte
und alles sollte nach meinem Wunsch gestaltet sein. Deshalb
hatte ich ganz unterschiedliche und neue Gefühle.
Zu Anfang hatte ich Schwierigkeiten in einer neuen Stadt,
wie Wohnungssuche, die Gewöhnung an die Universität,
neue Freunde und Bekannte. Was mich sehr verwunderte ist,
daß die neuen Bekannten, die ich gewonnen hatte, mich
nach unzähligen anderen Fragen auch fragten, ob ich einen
Freund hätte. Nach Verneinung dieser Frage fragten sie
mich, ob wir uns getrennt hatten. Dies machte mich sehr nachdenklich.
Ich begegnete dieser Frage zum ersten Mal und es wunderte
mich, daß fast nahezu alle meine Bekannte früher
oder später mit dieser Frage sich beschäftigten.
Es reichte natürlich niemanden, daß ich sagte,
daß ich keinen Freund habe. Sie fragten nach den Gründen
usf.. Es dann fing ich an darüber nachzudenken und mir
wurde klar, daß ich bisher keine Zeit hatte für
solche Gefühle zu leben, denn ich war in ganz andere
Probleme und Gefühle verwickelt. Ich hatte natürlich,
als ich in B. oder in der Türkei lebte, Freunde und Freundinnen
und diese hatten Liebesbeziehungen, aber ich hatte mir noch
nie die Frage gestellt, warum ich keine Liebesbeziehung oder
einen Mann hatte, der mir gefiel. Mit dieser Frage wurde ich
erst in G. konfrontiert.
Und dann, nach einer ganz kurzen Zeit, hatte ich einen Freund.
Ich kann nicht sagen, daß es eine Liebe war. Denn wenn
ich gefragt werden würde, beschreibe oder erkläre
die Liebe, so könnte ich dies nicht. Ich weiß nicht
was oder wie dieses Gefühl ist, weil ich es noch nie
Erfahren habe. Also, ich hatte einen Freund und ich kann nicht
sagen, ob ich verliebt war oder es eine Liebe war, aber ich
habe durch ihn das erste Mal mich gespürt und erfahren.
Das Gefühl mit einem Mann zusammen zu liegen, sich zu
küssen oder das Bett gemeinsam zu teilen waren in dieser
Zeit meine geteilten Gefühle meine Gefühle, das
war ich. Das waren meine Gefühle. Es waren Gefühle,
die ich bis dahin nicht kannte und es war das erste Mal ein
Erleben, daß es überhaupt solche Gefühlswelten
gibt.
Als ich diese Gefühle lebte war ich 21. Diese Freundschaft
dauerte nicht sehr lange, da die Erwartungen meines Freundes
sehr hoch waren. Er dachte an Heirat und Kinder. Er war auch
um einige Jahre älter als ich. Aber ich hatte bis dahin
noch nie ans heiraten und Kinder haben gedacht.
Kurz nach dem ich in G. lebte wurde meine Mutter krankt und
hatte eine chronische Depression. Weil sie krank war, fuhr
ich sehr oft nach B.. Ich blieb oft Wochen dort und war nur
ein paar Tage in G.. Dies machte mein Studium fast unmöglich
und ich hatte große Probleme meine Scheine zu machen.
Es war aber nicht so wichtig für mich, obwohl mir das
Studieren sehr wichtig ist, macht sie nicht meinen Lebensinhalt
aus. Vielmehr ist meine Familie und das Wohlergehen dieser
sehr wichtig für mich. So wie die Schule, würde
ich auch die Universität eines Tages zum Abschluß
bringen. Es machte mir nicht viel aus ein Semester nichts
zu machen, wichtiger in G. für mich war meine Mutter.
Nach dem die schwere Zeit der Krankheit meiner Mutter überwunden
war, begann ich mich wieder mehr auf mein Studium zu konzentrieren.
In der Zwischenzeit war mein ehemaliger Freund mit einer anderen
Frau verheiratet. Ich kann nicht sagen, daß es mich
nicht getroffen und traurig gemacht hätte, aber ich konnte
seine Erwartungen und Wünsche damals nicht erfüllen.
Denn während unserer gemeinsamen Zeit hatte ich nicht
an Heirat oder ein gemeinsames Kind gedacht. Die Heirat hat
mich - ich kann es nicht genau sagen - nicht traurig gemacht
stimmt nicht, aber es hat mich auch nicht aus der Bahn geworfen.
Es war bedeutend, daß es mein erster Freund war und
der erste Mann, dem ich näher gekommen war. Es war aber
keine Trennung, die mich sehr in Mittleidenschaft gezogen
hätte. Bevor ich die Beziehung mit ihm begann, war mir
schon klar, daß es für mich nicht in einer Heirat
einmünden würde. Der Verlauf der Beziehung und meine
Erwartungen waren mir eigentlich schon vorher klar. Aber ich
verspürte auf keinen Fall ein Gefühl, daß
mich dazu gebracht hätte zu denken, es war dein erster
Freund, was sollst du jetzt tun und dergleichen. Denn meine
Erziehung oder meine ständige Selbstverantwortlichkeit
bzw. meine Selbständigkeit haben mich in meinen Entscheidungsfindungen
immer begleitet. So kann ich sagen, daß ich ziemlich
genau wußte und auch weiß, was ich tat und tue
und das dies für mich richtig ist.
Von diesen Ereignissen hatte und hat auch bis heute meine
Familie keine Ahnung. Ich bin mir auch sicher, daß wenn
sie es erführen, es für sie eine große Enttäuschung
wäre und mein Leben sich dadurch sehr verändern
würde. Der Grund dafür liegt darin, daß ich
zum Studieren in eine andere Stadt gegangen bin. In meiner
Familie, den Verwandten und auch dem Bekanntenkreis genieße
ich ein gewisses Ansehen, durch die Tatsache meines Studiums.
Dies ist die Begründung meines Fernseins von zu Hause.
Wenn ich ihnen erzählen würde, daß ich 28
Jahre alt bin und mein Leben allein leben möchte, dies
würde seitens der Familie und dem Umfeld nicht verstanden
und akzeptiert werden. Da ich mir sicher bin und unsere Kultur
sehr gut kenne, verlöre ich diese Anerkennung und damit
auch die Erlaubnis "nicht zu Hause zu sein", wenn
auch nur "der kleinste Fehler" in meinem Verhalten
deutlich werden würde. Deshalb habe ich niemals darüber
nachgedacht ihnen davon zu erzählen.
Und ich werde es auch nicht tun, zum einen, da ich mir sich
bin, daß es das Verhältnis und auch die Beziehung,
die ich zu meiner Familie und meinem Umfeld habe, zerstören
würde. Und zu anderen es die Beziehungen meiner Familie
mit ihrem näheren Umfeld stark belasten würde. Denn
die Tatsache, daß ich mit einem Mann geschlafen habe
ohne mit ihm verheiratet zu sein würde weder von meinem
Vater oder meiner Mutter noch von den Verwandten und Bekannten
akzeptiert werden können.
Im türkischen Sprachgebrauch wird immer noch sehr viel
Wert auf die Unterscheidung zwischen kiz (Mädchen, Jungfrau)
und kadin (verheiratete Frau) gelegt. Eine unverheiratete
Frau wird als kiz angesprochen. Als kadin werden können
nur verheiratete Frauen angesprochen werden.
Wenn bekannt werden würde, daß ich keine Jungfrau
mehr bin, würde das zu einem Schock bei meiner Familie
und dem näheren Umfeld führen. Es würde zu
monatelangen Gesprächsthema werden und jeglichem Klatsch
und Tratsch Tür und Tor öffnen.
Weiterhin bin ich mir sicher daß, die "Sache"
meine Mutter noch mehr zerrütten würde, als die
Geschehnisse mit meinem Bruder. Denn in der Kultur der Türkei
sind "Fehler" in Verhältnis, daß eine
Frau einen "Fehler" begeht gravierender. Für
meine Mutter wäre es schlimmer und nicht zu verkraften,
daß als ihre Tochter einen "Fehler" begangen
habe. Die hat nicht nur für meine Mutter Gültigkeit,
sondern für alle, die aus der türkischen Kultur
entstammen. Dies ist etwas, daß ihrer kulturellen Vorstellung
widerspricht.
Wenn andere dies hören, bezeichnen sie es oft als "Doppelzüngigkeit"
oder "Doppelmoral". Ich würde es nicht als
Doppelmoral, sondern als "zwei Leben" beschreiben.
Eine Leben, welches mit kulturellen Ansichten türkischer
Herkunft und eines welches aus Anteilen europäischer
Kultur besteht. Ich kann mich heute nicht als Zugehörig
der einen oder anderen Kultur bezeichnen. Ich kann weder die
türkische Kultur noch die europäisch, deutsche Kultur
akzeptieren. Für gibt es Bestandteile und Anlehnung an
Teilbereiche beider Kulturen. Gefühlswelten, die aus
beiden Kulturen entstammen. Ich fühle mich beiden Kulturen
zugehörig.
Deshalb ist für mich ein Beziehung, die ich vor einer
Ehe hatte bzw. die Bewertung dessen, in keinsderweise mit
den Vorstellungen, die aus der türkisch kulturellen Sichtweite
resultieren, vereinbar. Genauso wenig entsprechen sie aber
den Vorstellungen, die aus der deutschen Kultur resultieren
würden. Die Beschreibung dessen würde nicht der
deutschen, aber auch nicht den türkischen Vorstellungen
entsprechen. Ich würde es als eine Kultur bezeichnen,
die ich durch meine Entwicklung, meiner Auseinandersetzung
mit Freunden, meinem Leben, Büchern oder meinem Lebensumfeld,
entstanden ist.
Ich bin mir bewußt, daß das nicht Auffinden einer
zwischenkulturellen Persönlichkeit mir Schwierigkeiten
bereiten wird. Ich kann heute in Deutschland weder mit einer
Kultur türkischer Herkunft leben, noch als ein Mensch
mit türkischer Vergangenheit in Deutschland mit einer
deutschen Kultur leben. Wenn ich mich für eins der beiden
Entscheiden würde, bin ich mir sicher, daß ich
in eine Identitätskrise fallen würde. Obwohl ich
relativ spät nach Deutschland gekommen bin, freut es
mich doch sehr zu sehen, wie ich für mich einen Weg zwischen
den Kulturen gefunden habe und ihn leben kann. Ich bin sicher,
daß ich den richtigen Weg für mich eingeschlagen
habe.
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